Brigitte Oleschinski Baustellen, Wespen, Abendgeruch Seit ich mich erinnern kann, haben Gedichte für mich etwas mit Bewegungen zu tun, mit gestischen Abläufen und körperlichen Impulsen, die eine Zeile, einen Gedanken nach außen öffnen, weg von mir und weg von seinem Ausgangspunkt. Gedichte - das wäre eine mögliche Beschreibung - gehen über Grenzen, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überqueren kann. Manche dieser Grenzen liegen ganz nah; es sind die zufälligen und veränderlichen Grenzen meiner Person, meiner Biographie, meiner Erfahrungen. Andere Grenzen sind sehr viel ferner, schwerer zu bestimmen und schwerer zu erreichen: eine Spur von Schnee auf dem Dach eines japanischen Hauses, der offene Beinstumpf eines russischen Soldaten in Grosnyj, die Songlines der australischen Aborigines. Ich habe Angst, einem Gedicht über diese Schwellen zu folgen, jedesmal, aber in der Angst vibriert zugleich eine unbändige Lust, es zu tun. Gedichte entstehen aus Spannungen, die sich durch nichts anderes befrieden lassen. Auch das Gedicht löst sie nicht auf, sondern reagiert nur darauf. Ich laufe Tage, Wochen, Monate herum mit einem Ticken im Körper, das von einem winzigen, unwägbaren Stich in Gang gesetzt wird. Er kann von einem einzelnen Wort ausgehen, Milchtüten vielleicht, Warnblinkanlage, Fischmuskeleiweiß, und dann treibt mich das Ticken von Wahrnehmung zu Wahrnehmung, MMM-ilch-, Mil-chchch-, Mi-lllllchtüüü-: die Euro-Aufschriften auf diesen Pakkungen, die an einen steinigen, ölverschmierten Strand geschwemmt wurden, milk, melk, lait, latte, als würde das Flüssige in weißen Streifen vor die paar Häuser auf der Klippe genagelt, und welchen Rhythmus das nächste Wort hat, Warn- blink-an-la-ge, vier fast gleichstark betonte Silben hintereinander, völlig verrückt, oder die rhythmische Symmetrie von diesem Fisch-mus- kel-ei-weiß, während die Vokale eine ganz andere Kurve ergeben: Auf!-aaab-leer-weiei-ter... Noch öfter ist es etwas, das sein Stammeln nur in Bildern erzeugt: die Drehbewegung einer Schulter vor dem abblätternden Anstrich einer Badekabine, und der flimmernde See dahinter, seine Kiefern bis zum Ufer, das Aufwirbeln der Mücken in a mill of hooks, eine Szenerie wie aus einem finnischen Urlaubsprospekt, aber das Ticken darin steckte lange voller Gewaltsamkeit, voller Bedrohung, als schriee etwas mich von innen an. Bis der Augenblick kommt, in dem das Stammeln plötzlich kein Bild mehr prozessiert, keine filmähnliche Sequenz, kein musikalisches Motiv mehr, sondern eine Wortbewegung und einen Zeilenfall, die alles daüber wissen. Das ist der (immer ganz klare, ganz eindeutige) Moment, in dem ich spüre, daß das Gedicht mir weit voraus die Grenze passiert, während ich zurückbleibe - zurückbleiben muß oder zurückbleiben darf, je nach Gedicht und Sichtweise. (Auszug aus dem Anfang des Essays aus Die Schweizer Korrektur) |