Norbert Hummelt

winterreise



was ich gelesen habe, habe ich gelesen. ich such im schnee
vergebens nach ihrer tritte spur, maiglöckchensuche im
künstlichen winter, oder winterreise als inventur:
meine sprache, mein auge, mein fenster, mein platz.
bei tag bei nacht zieht es mich hinaus, wie an den augen
zieht es mich hinaus, es zieht mich auf den platz hinaus,
der helle widerschein, das schöne sehen; mit den augen,
mit den ohren, über die orte, durch die zeit / wie aber
soll der winter kommen, wenn es hier niemals richtig
nacht wird, ich habe es in der zeitung gelesen, der winter
bleibt in diesem jahr nur ein zitat / die farbe der nacht,
die farbe des winters, doch wenn ich auf die straße sehe,
bleibt sich alles gleich; die farben der ampeln im weißen
neonlicht, ein schneebogenleuchten im künstlichen winter,
das blühen der bäume ende februar / eine klimaverschiebung,
so heißt es, ein verschieben der zeit, so heißt es, ein
verschieben der worte, über die orte, durch die zeit / wo
find ich nun einen, der mir sprache leiht, es ist nichts
zu hören, u. wenn der schnee ans fenster fällt, was dann,
was dann, was geschieht dann mit meinen blühenden wörtern,
den rosenknospen, japanischen kirschen, u. wo nehm ich
wenn es winter ist den hellen schein der straße? draußen
auf dem platz sind die ampeln erloschen, ein gänzliches
versiegen aller lichtquellen; da ist keine lilie, da ist
kein kelch, es ist eine winterreise von dir zu dir:
eigentlich seien es zeilen für ein gedicht gewesen, welches
aber nie zur welt gekommen, das wort schneewangen wiege
zu schwer / da nur schwebend einander sie tragen könnten,
ein windspiel zweier winterfedern, eine schneeflocken
irritation / der schnee falle dichter mit jedem wort,
der schnee falle dichter auf jedes wort, der schnee
wortfeld, ihr gesicht sei ganz weiß geworden.
nicht hier. nicht jetzt. wir lagen lange wach.
es gehn ja mühlenräder in jedem klaren bach



(Aus: singtrieb)