Ursula Krechel

Auslassungen über das Weglassen




Von neuem an die Schamschwelle stoßen.
Wie kommen die Wörter ins Gedicht? Und wie verbinden die Wörter im Gedicht sich zu Gebilden, die unauflösbar dieses Gedicht sind? Anderswo wären sie semantisch ungebundene Gesellen, lexikalische Streuner, schwankende Rohre im Wind, dem Augenblick hörig, in dem sie benutzt werden, und dann sind sie wieder losgelassen. Wer ihnen symbolisch eine Mark gibt, den strahlen sie mit einem Blitzlichtblick an, eine Wortverbindung, eine Konvention lang verbindlich. Sie bleiben, wo sie niemand hingerufen hat, und sind kaum mehr zu vertreiben, auch der Autor, der das Gedicht verantwortet, hat schon fast Mitleid mit ihnen, wo sollen sie hin, wenn es kalt wird, also gnädig, herablassend, inflationär milde gestimmt ins Gedicht. Das Gedicht hat keinen Gegenstand, es ist selbst ein Gegenstand, doch einer, der vor den unpoetischen Augen verschwimmt, der sich erst bildet beim genauen Hinsehen, Lesen, Hören. Ein sich Ballen, sich Zusammenziehen, eine sich sammelnde und wie in einem Magnetfeld ausrichtende Energie, deren Herkunft, deren Wirkmechanismen nur mühsam eruiert werden können. Solange sich niemand für diesen Gegenstand erwärmt, bleibt er starr, abgelöst. Seine fließende Energie, der sich der Autor aussetzt, die er befeuert, der er Einhalt gebietet mit einem stillschweigenden Maßnahmenkatalog, ist rätselhaft. Zufall und Neigung verschränken sich. Und im Korrekturvorgang muß der Autor viele Wörter wieder vertreiben, hinaus aus der Wärmestube, der Autor hat sie nur in einer Aufwallung hineingelassen und ist für ihren weiteren Verbleib nicht verantwortlich. Einer Handvoll Wörter schafft er Platz. Sie können bleiben, doch wird ihnen gleich eine Arbeit angeboten, lebhafte Bewegung, wie auf einer Baustelle, Schwarzarbeit. Wer unter ihnen sich nicht bewegt, wird wieder rausgeschmissen ohne Papiere. So gnadenlos sind das Leben und die Poesie sonst kaum gleichzeitig. Für die Übriggebliebenen, ungesichert, unabgesichert, ist Platz, Arbeit. Schreibend, montierend, kontrollierend schaut der Autor ihnen zu, wie sie sich aneinander reiben, miteinander kämpfen. Dort, wo sie gebraucht werden, stehen sie plötzlich scheinbar ganz richtig, zugleich Zeugen, Arbeiter und Produkte eines Arbeitsprozesses in vielen Schichten unter der nächtlichen Flutlichtanlage.
Die Wörter im Gedicht haben sich ihren Platz nie gesucht. Wenn sie in diesem oder in jenem Gedicht dennoch so wirken, so «hervorragend», so unabgerundet aufgesteilt wie beispielsweise das Wort «Nasenpopel» in Gottfried Benns Gedicht Alaska, verbindlich vertäut, gefesselt in den Zeilen

Europa dieser Nasenpopel
aus einer Konfirmandennase

- dann ist etwas geschehen, die Alarmsirene der Semantik schrillt. Ein Wort breitet sich aus, schafft sich Raum, jedoch nicht auf Kosten anderer Wörter. Auch sie sind starke Bedeutungsträger. Es ist nicht unmittelbar der Raum der Zitierfähigkeit, der Rezeptions-Provokation, von dem hier die Rede ist, eher ein Raum der Entfaltung. Eine andere Wortbildung, die in ein Gedicht hineingegangen ist und die nirgendwo anders mehr am Platz wäre, ist Georg Heyms

Lärm und Menschenschwalle

in seinem Gedicht Berlin. Der sonderbare Plural springt unmittelbar in die Augen (ist es überhaupt einer?), die lautmalerische Bildung, in der das Aufquellen, Anschwellen, Überschwappen, Krawallmachen der Menschenmenge ingeniös enthalten ist, nicht als Tätigkeit, sondern als Produkt einer Bewegung. Ich möchte solche Wörtersignale die «Spezialisten» in einem Gedicht nennen. Sie haben eine tragende Aufgabe, drängen sich vor, lenken den Text, haben einen imposanten Bedeutungshof. Sie stehen häufig an pointierter Stelle - bei Benn am Anfang des Gedichts, bei Heym am Ende. Mit solchen Signalwörtern zu arbeiten, ist reizvoll und gefährlich zugleich.
Lange Zeit ging ich mit dem Wort «verheert» in meinem Kopf um: «verhurt, verheert», «eine verhurte, verheerte Welt», doch immer gab es eine Bremse, ein Unwohlsein, bis mir schlagartig, ja, solche Schläge gibt es beim Nachdenken, zu Bewußtsein kam: Ingeborg Bachmann hält dieses Wort besetzt. Ich habe in meinem Gedicht keine Möglichkeit, es zu «zitieren». Das wäre auch unredlich, wenn ich es wie einen «spontanen» Einfall um- und umgewendet hätte, ohne Ergebnis, ohne die Fähigkeit, es zu einem Spezialisten zu ernennen, immer bliebe das Wort eine Art Parasit. In Ingeborg Bachmanns Gedicht Mein Vogel ist die Wendung «verheert» eine Einstimmung in all die harten, betonten, männlichen Vers-Enden. Nichts schwingt aus, nichts kommt zur Ruhe, nicht einmal die Dämmerung darf ihr schläfrig unbetontes «e» behalten, stakkatisiert sich zur «Dämmrung». Gerade für deutsche Leser mit ihrem schon klassischen Effizienzquotienten, den sie unbegreiflicherweise gleich mit der Wurzel ziehen wollen, ist diese der Bachmann eigene Rabiatheit höchst ungewöhnlich. Von den Schweizer Lesern, die das ordentliche, ruhige Uhrenticken vielleicht in ihren Genen gespeichert haben auf freudiges Nimmerwiederhören, weiß ich zu wenig, vielleicht sind es einfach zu wenige; und die möchten das Ticktack, das ihnen in den Schlaf half, wiederhören, und die schrillenden Töne, Wahrnehmungen, Zeitgenossenschaften perlen von ihnen ab. Der befremdliche Zürcher Kreativitätswettbewerb auf den Schreibtischen von Ingeborg Bachmann und Max Frisch, der eineinhalb Jahre nach der Veröffentlichung dieses Gedichts begann, ungerührt, ungehört, spricht eine eigene Sprache. Das produktive Paar terrorisierte sich gegenseitig im mechanischen Schreibmaschinenwettbewerb, indem es die Tasten befeuerte, befeuchtete wie ein altes Klavier, immer mußte diese föhnige, hochdruckbesessene Schreibbewegung herrschen, die ja nicht unmittelbar bedeutet: etwas Wunderbares, Unerhörtes entsteht im nahen Arbeitszimmer, etwas höchst Individuelles, das die Körper, müde geschrieben, gedacht, gearbeitet, vermutlich nicht mehr einholen können. Tragödie der beweglichen Schreibmaschinentasten, Tragödie der aufgescheuchten Sinne, geschlagen vom Klopfen der Tasten. Ein freundliches Zeitgefühl kann den Versen nicht solche unerbittlich harten Fanal-Endungen zugedacht haben. Die Verheerungen des Faschismus, des Krieges strahlen fort, die Verheerungen der schutzlosen Ausgesetztheit werden von den «ruhig und stet» blickenden «Augen der Eule» bewacht. Die Uhren ticken, schlagen wässrig, bis der Quarz ihnen die Präzision und die Langweile einschärft. Das Wort «verheert» setzt sich als eine solche Klette fest, produziert die Hoffnung, die die Genugtuung haben möchte, wenigstens im bachmannschen österreichischen Deutsch gingen die Uhren langsamer, schmiegsamer, wären die historischen Zeiger biegsamer -, dies ist eine arge, lebensgeschichtlich einschneidende Konsequenz, die historisch vor den vielfältigen politischen Fältungen und Faltenwürfen und Kniefällen nicht so stark empfunden wurde. Konfrontationskurs eines Gedichts. Diese unerbittliche, selbstverletzende Härte verstört - und das ist das eigentlich großartig Verheerende in der Symbolwelt des Gedichts Mein Vogel.

Was auch geschieht: die verheerte Welt
sinkt in die Dämmrung zurück,
einen Schlaftrunk halten ihr die Wälder bereit,
und vom Turm, den der Wächter verließ,
blicken ruhig und stet die Augen der Eule herab.

Um nicht mißverständlich zu sein: Ich meine nicht, daß solche «Spezialisten» nicht in einer Traditionslinie wirken könnten, daß sie nicht weitergegeben und -erforscht werden müßten. Ganz im Gegenteil. Dann aber als ein Zitat, als ein Durchschimmern ihrer Herkunft und ihrer möglichen Zukunft in einem noch nicht geschriebenen, nicht von diesem Autor zu schreibenden Gedicht. Aufgesteilt, um andere Wörter zu übertrumpfen an Einzigartigkeit, an Gefundensein, nicht Erfindungslust, sind diese «Spezialisten» gefährliche und das Ganze eines Textes gefährdende Gratwanderer. Keine Streuner, sondern Okkupanten, die nie wieder das Terrain zu verlassen scheinen. Besser: der Autor studiert ihr Umfeld, ihre Gewohnheiten, ihre Eigenarten, als daß er sich ihnen willig ergibt und zuungunsten anderer möglicher Wörter mit ihnen kollaboriert. Haben sie sich festgesetzt, dann heißt es mit ihnen arbeiten, an der Verstörung arbeiten, die sie voraussehbar erzeugen. Ein einziges Wort, eine Wendung kann der Nucleus zu einem Gedicht sein, er kann aber auch wie eine zähe Masse den Stollen zu einem im Entstehen begriffenen Gedicht verstopfen. Viele Wörter, Begriffe, Endungen kann ich nicht benutzen, sei es, daß ihre Konnotation mir unbrauchbar erscheint, daß sie besetzt sind mit einem bestimmten Bedeutungshof, manchmal stört nur (nur!) eine Silbe, eine Betonung; der Vokal zu hell, zu dunkel, dies gilt für Wortfindungen und für Vorgefundenes im gleichen Maße.
Ein Beispiel: Auf der Rückfahrt von einer Lesung verfolgte mich die Wendung «Briefmarkenzüchter und Gedichterzeuger». Etwas lachte in mir böse auf. Der Hieb saß. Aber wen traf er? Die Wendung verfolgte mich den halben Mittelrhein entlang von Bonn über Bad Godesberg über Rolandseck bis zu den dem trägen Wasser zugewandten verschlafenen Hotels von Assmannshausen auf der anderen Seite des Flusses. Weg, weg, verscheuchte ich die Wendung, sie war mir zu polemisch, zu keck, (zu unpoetisch?), und gleichzeitig war ich - wie bei den Wörtern, die sich im Traum mit großer Beharrlichkeit festsetzen - erbittert über ihre Hartnäckigkeit. Auch Ohrwürmer kriechen in das musikalische Gedächtnis hinein, unabhängig von der Qualität ihrer Tonfolge. Ich haderte schon: Nie werde ich diese Wendung in ein Gedicht lassen, ich mache die Schotten dicht. Und war in Mainz ganz erschöpft von der inneren Gewalt, mit der ich mich gegen einen dummen Einfalt hatte wehren müssen. Dummer Einfall! Im Nu ist die Ebene der Textualität verlassen - entgegen meinem Schreibvorsatz. In einem anderen Kontext, einem, den ich nicht anstrebe, könnte meine abgewehrte, verbannte Wendung vielleicht reizvoll sein. Ich kenne diesen Kontext nicht, kann ihn schreibend nicht herstellen.
Das Schreiben von Gedichten ist ein steter Produktionsprozeß; doch ebenso sehr bin ich an dem dauernden Scheidevorgang interessiert. An jedem Zeilenrand verzweigen sich die Möglichkeiten ins Unendliche, ein dauerndes, doch kein bedauerndes Weglassen. Die Potentialität wird auf das Maß der Realität eines einzelnen Textes reduziert. Was in das Gedicht hineinkommt, läßt sich ex negativo lesen: Was aus den unzähligen lexikalischen Möglichkeiten, die die Wörterbücher auflisten, gelangt nicht ins Gedicht? Die eigene Sprache ist ein Kosmos, Dialektalisches erweitert und irritiert ihn, T.S. Eliot und Ezra Pound haben gezeigt, wie die Ränder der eigenen Sprache an fremdsprachlichen Einsprengseln diffundieren. Neben die sogenannten Spezialisten im Gedicht treten die Springer, die Damen, die Bleichhansel, die Wasserträger, die Graumäusigen, ja auch ungeliebte Wörter sind im Gedicht, Reizmittel, Fundstücke aus dem großen Schmutztitel der Gegenwart und Weithergeholtes aus verblüffenden Sprachwelten. Wenn bei der Druckgraphik manchmal vom «schmutzigen Daumen» des Radierers gesprochen wird, so bin ich geradezu am Einbau, Umbau einer winzigen Unregelmäßigkeit, die Staunen macht, interessiert; sie rückt für mich das Aufblitzen von Schönheit, von etwas Gelungenem näher, gibt ihm schärfere Konturen.
Was ausgeschlossen bleibt in einem Gedicht, das können und müssen auch vielfältige formale Eigenschaften sein: bestimmte Versmaße, Reimschemata, manchmal nur im Mimikry entfernt benutzt oder heranzitiert aus der vagen Erinnerung, Homophonien, bestimmte Vokale, Rhythmisierungen, Betonungen. Von welchen lyrischen Traditionen grenzt sich das Gedicht ab? Innovationen sind häufig Reduktionen: Kampf dem Ornament, den melodisch empfundenen Tonschritten, den als zu belanglos empfundenen Seh- und Hörgewohnheiten, die allzu leicht zu bedienen sind.
Scham über eine gefundene Notiz. Scham vor dem Wegwerfen einer Notiz. Als könnte sie gefunden werden hinter meinem Rücken, der sie nicht deckt, als müßte sie dann für sich selbst sprechen, was ich ihr abspreche. Ich bevormunde die Notiz, deren Weiterleben von mir abhängt, an einem seidenen Faden hängt, zwischen dem Papierkorb neben meinem rechten Bein und meiner rechten Hand ein spinnwebfeiner Faden, Altweiberzeit. Fadenspinnen und Fadenzerreißen. Die Notiz spricht nicht. Sie liegt flach vor mir auf dem Tisch. Was will sie von mir, die ich sie beinahe schon vernichtet hätte? Ich muß hinter ihr stehen und sie aufrichten. Doch sie ist da, mit ungefälliger Beharrlichkeit. Gefunden und nicht gesucht. Sie verlangt von mir, nicht vernichtet zu werden, bettelt um Gnade, noch einmal besehen, bearbeitet, behaucht zu werden. Also spreche ich noch für sie, indem ich über sie urteile. Also ist sie nicht losgelassen. Noch das Verdorbene regiert die Wahrnehmung, bis sie sich frei gemacht für einen neuen Entwurf. Innere Verwerfungslinien, die in einer glückhaften Produktion sich selbst immer wieder verwerfen, so daß der Fehler, die fehlgelaufene Erregung, die sie zustande gebracht hat, von selbst weggefaltet wird. Geologie eines Produktionsprozesses, während das Publikum ein Freund von hochaufragenden Gipfelpanoramen ist. Wäre die Notiz ihrer Sprache sicher, wäre ich einmal ihrer Sprache sicher gewesen, wäre aus der Notiz ein Gedicht geworden, hätte ich sie zum Gedicht erklärt, aber ich habe sie beiseitegelegt. Es lag mir nichts daran. An einem Gedicht hätte mir gelegen. Ich hätte gewollt, daß es gelesen wird. Wenn ich das Scheitern an einer Notiz, die liebe Not zu beschreiben suche, dann weil dieser Scheidungsprozess zwar nicht das Schreiben konstituiert, doch auf unnachgiebige Weise mit ihm verzahnt ist.

Ich möchte längst gestorben sein
beim Wein beim Wein beim Wein
zu meinem Begräbnis lad ich ein
ihr wärt danach so schön allein
beim Wein beim Wein beim Wein
ich möcht so gern gestorben sein
beim Wein beim Wein beim Wein

Keine Eintragung, keine Selbstdokumentation sagt mir, wann die Notiz entstanden ist. Sie könnte ihrer Verfaßtheit nach in den Umkreis des Bandes Kakaoblau (1989) gehören. Doch die heitere Gestimmtheit dieser Gedichte für Erwachsende, das Bauprinzip des Zyklus, in dem Unvereinbares aufeinandertrifft und in der Sprache koaliert, kopuliert, schied möglicherweise diesen Entwurf aus, der sich in die Ordnung der schrägen Dinggedichte nicht fügte. Ist es überhaupt ein Entwurf? Das serielle Prinzip, der unregelmäßig, doch wie ein Refrain eingesetzte Vers «beim Wein beim Wein beim Wein», das einfache, eingängige Reimwort, das unendliche Paarungen bilden könnte, - all dies läßt die Konstruktion eines geschlossenen, doch beweglichen Systems vermuten, eines Systems, das mir in der Bearbeitung keinen Raum mehr läßt. Ich könnte auch sagen, das Notat schließt mich aus, stößt mich nicht nur als Trägerin eines bestimmten Autorennamens, als Konstrukteurin, als Tätige aus. Mit anderen Worten: die Zeilen brauchen mich nicht. Schreibend, nachdenkend brauche ich es aber, gebraucht zu werden von einer Wörterzusammenballung, einer Energie, brauche es, mich einem sprachlichen Magnetfeld auszusetzen. Vielleicht ist die Prämisse, tätig werden zu wollen, bereits falsch. Das Notat eröffnet keinen Raum ästhetischer Arbeit. Hier hat sich etwas beruhigt, ohne daß die vorangegangene Erregung wahrnehmbar geworden ist.
Die 1. Person Singular, diese Maske des Singulären, ist, wenn sie nicht quasi naiv, «authentisch» verwendet wird, im Gedicht eine schwierige Voraussetzung. Die quallige und am Ende des 20. Jahrhunderts einigermaßen unredliche Floskel vom lyrischen Ich taugt zum Versteckspiel, jedoch nicht zu einer rhetorischen Figur, die Distanz und Nähe gleichzeitig umfaßt. Die 1. Person Singular verlangt nach Distanzierungen, die dazu dienen, das Autoren-Ich aus der Schußlinie des identifizierungssüchtigen Lesers zu ziehen. Rollen, Orte, situative Einlassungen, von denen aus gesprochen werden kann. Rollen-Poesie: ein mißlicher Begriff für eine mißliche Sache, die gleichzeitig überbordend großartig sein kann (s. Goethe: Wanderers Nachtlied; Günderrode: Der Nil; Jesse Thor: Der erste Brief des Bedienten Abu, Trinkspruch). Wer spricht:

Ich möchte längst gestorben sein

In Sicht ist keine rhetorische Figur, die dieses «Ich» trägt und auf die schwere Schulter nehmen kann. Zweifellos, das Notat handelt von den letzten und vorletzten Dingen, dem Tod, der Feier des Todes, dem Blick zurück, dem Refrain der Nichtwiederkehr. Es macht sich leicht, liedhaft leicht, aber das Leichte und das Schwere kommen nicht zueinander, zeilenbrüchig, wortbrüchig stehen die Elemente nebeneinander; so habe ich mit ihnen nichts zu schaffen. Im Weglassen ist auch eine Erleichterung inbegriffen.
Meine Besorgnis, wie wird ein Gedicht zu einem eigenen, eigenständigen Gedicht, hat im Zeitalter, in dem das Verschwinden des Autors sowohl als Geste der Selbstinszenierung als auch eine multiple, changierende Textqualität wahrzunehmen ist, noch einen anderen Valeur. Auf was immer sich ein Text bezieht, welche methodischen Voraussetzungen er hat, das einzelne Gedicht ist präsent, muß verantwortet, autorisiert werden mit einem bestimmten Autorennamen. Aber ich, die Autorin, habe eine Fülle anderer Texte in mir, Echos, die die Liebe zu bestimmten Gedichten zurückwirft, vergrabene Stellen, abgesunkenes Lesegut, Kinderreime, dramatische Balladenschlüsse, Bibelverse, Dialogfetzen aus einem gestern gesehenen Film. Sie sind da, verstopfen die Schreibporen, doch keine kosmetische Behandlung tilgt sie aus dem Gedächtnis. Die cleane Oberfläche, ozongerötet, Spurenlosigkeit nur vortäuschend, ist eine Illusion. Das weiße Blatt, dieses schöne Bild für alle Schreibenergie, ist nicht weiß. Die Erwartungen, die an die Autorschaft gerichtet sind, fremde projizierte und eigene Ansprüche, werfen, bevor eine Zeile geschrieben worden ist, ihren langen Schatten. Das Geschriebene schaut die Schreibenden an, und sie schauen zurück in einem langen Blick, so lang, daß er manchmal schwindeln macht. Gedichte, die jemand intensiv liest, liebt, werden nahezu zu eigenen. Doch die Distanz, in die der methodische Intellekt sie wieder rücken muß, ist schwierig nachzuvollziehen. Ich möchte den Zustand, aus dem ein Gedicht entsteht, nicht lebensgeschichtlich beschreiben, eher als eine explosive Spannung, einen oft schmerzhaften, aufgeregten, aufgelösten Zustand, eine ziellose Erregung, die erst in einem Zeilenfall, einem dünnen Wortfaden, an dem ich mich entlang hangele, seine Zielgerichtetheit findet. Nein, auch Zielgerichtetheit ist es nicht, eher ein sich Neigen, Wenden, die geballte Energie gerät in Fluß, mit der Fließgeschwindigkeit wächst die Aufmerksamkeit: was geschieht da unter meinen Händen, muß reguliert werden, umgeleitet werden, mit anderen Notaten verknüpft werden? Ich befinde mich in einem Labor, in vollkommener Nüchternheit beobachte ich die Massen, die aufeinandertreffen, ihr Reagieren, sich Abstoßen, die Wahlverwandschaften. Das Thema des Versuchs ergibt sich aus früheren Versuchen, das methodische Vorgehen aus einer Vorstellung wie: Es scheint, daß dieses Textmaterial zu einer Elegie drängt. Oder: Zwar ist mir die Tradition des Naturgedichts fremd, doch der Name eines Vogels (ein «Spezialist») zieht andere Bedeutungsträger aus dem Wald nach sich. Oder: Der imperative Gestus eines Hinweisschildes auf einem Parkplatz geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Die methodische Aufgabe hieße: wie kollidiert ein Befehlston mit einem wünschenswerten Konjunktiv? Die semantischen Aufgabenstellungen ergeben sich allerdings nicht immer zuerst. Die formalen zu benennen, scheint mir viel schwieriger zu sein. Die Laborsituation fordert, viele ungleichartige Indices gleichzeitig zu beobachten, die Versuche laufen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab. Rhythmisierungen des Textes, Betonungskatarakte wollen die Beobachterposition wegreißen. Die Gewißheit, hier eine Lösung gefunden zu haben, wird schmerzhaft in Frage gestellt von einer Unsicherheit dort. Doch bin ich schreibend, ausprobierend, laborierend Teil des Experiments, wie das Gedicht Subjekt und Objekt des Arbeitsprozesses ist. Nervosität, Unachtsamkeiten, Störungen verderben mir das Material; ein Glas zerspringt, meine Wörtertabellen sind unnütz geworden, ein Enjambement, in das ich mich verliebt hatte, hinkt plötzlich mit einem Bein. Erschöpfung, Erbitterung gegen das spröde Material, Materialverschleiß durch zu langes Arbeiten; ich sehe nicht mehr genau, was ich tue. Die Hochgemutheit stürzt plötzlich, die Teetasse fällt aus der Hand, ich empfinde Langeweile und Überdruß bei einem Experiment - das ist das Schlimmste - und breche es augenblicklich ab. Daß ich die metaphorische Arbeit an Gedichten nur in Form von Metaphern (Baustelle, Labor) beschreiben kann, ist ein Paradox, das in die Hand des Lesers gelegt werden muß.
Die unverwechselbare Stimme! Wiedererkennbarkeit der Autorschaft! All das, was das Publikum wünscht, erscheint in meinem Zusammenhang als etwas synthetisch Herstellbares, Hergestelltes. Jedenfalls als etwas, das im Bewußtsein aufgehoben ist. Aber die Klangassoziationen, die Binnenreime, die Verrückungen! Kein Autor gibt sich dem Zufall anheim, obwohl der Zufall ihm in die Hand spielt. Kein Text ähnelt nur entfernt dem, den herzustellen wünschenswert erschienen ist.



(aus: Ursula Krechel: Gedichte, in: ZdZ Heft 5)