Jürgen Becker

Korrespondenzen an den Rändern des Sprechens


Jürgen Becker antwortet auf einen Brief von Brigitte Oleschinski

26. September 1994

Lieber JB,
daß ich so spät erst auf ein Projekt zurückkomme, über das wir schon vor etlichen Monaten gesprochen haben, hängt nicht nur mit den üblichen Verzögerungsfaktoren zusammen (obwohl diese Verzögerungsfaktoren in ein Gespräch über Gedichte immer hineingehören; nichts haben wir in den Briefen der letzten Jahre so ausführlich beklagt wie Zeitprobleme, die ständige Überarbeitung, Verwaltungshändel, Büroärger, Konferenzgesichter - vielleicht war und ist das, allem Jammern zum Trotz, doch eine der wichtigsten Anschlußstellen für das Bedürfnis, Lyrik nicht am idyllischen Rand der Welt, sondern «auf der Höhe der Zeit» zu versuchen); tatsächlich hat das scheinbar ineffiziente, sprich: halb ratlose, halb zuversichtliche Abwarten mehr mit den tektonischen Verschiebungen in meiner Wahrnehmung von Gedichten und ihrem poet(olog)ischen Kontext zu tun als mit irgendeiner beruflichen Ablenkung. In dieser Idee, für «Zwischen den Zeilen» mit Dir einen Briefwechsel über bestimmte Aspekte Deiner Poetik zu probieren, treffen sich deshalb mehrere Anliegen. Zunächst glaube ich, daß es schwierig wäre, über Deine Arbeit etwas zu sagen, das nicht längst irgendwo gedruckt steht, sei es in Deinen eigenen Texten, die genügend programmatische Stichworte enthalten, oder sei es in der umfangreichen Sekundärliteratur. Aber die Lesarten und Impulse, die ich damit verbinde, sind Teil eines über Jahre geführten Gesprächs, das mir - trotz Deines im FAZ-Fragebogen so fröhlich bekannten Lieblingsfehlers, «Briefe unbeantwortet liegenzulassen» - immer nach beiden Seiten produktiv erschienen ist, und vielleicht können wir davon etwas in diesen Beitrag einbringen. Dafür erscheint mir die Briefform ohnehin geeigneter als ein konventionelles Interview oder das öffentliche Gespräch, ganz abgesehen davon, daß sie für mich selbst ein so wichtiges Medium ist. Wir haben solche Gespräche vor Publikum zwar schon versucht, aber etwas Schriftliches stelle ich mir einfach konzentrierter vor. Und vielleicht wird auf diese Weise auch erkennbar, daß ich, wie manche anderen AutorInnen meiner Generation, einigen Grund habe, Dir für Ermutigung und Unterstützung dankbar zu sein; da ich aber keine Widmungsgedichte schreibe und mich mit Hommagen aller Art schwertue, ist das vielleicht ein angemessener Weg. Mir geht es im folgenden, neben dem Plaudern, um drei Thesen zu Deiner Arbeit, die sich grob - und einigermaßen plakativ - mit den Stichworten digitales Schreiben, Ränder des Sprechens und poetische Kommunikation umschreiben lassen. Mir ist bei solchen Klebeetiketten natürlich nicht wohl, wie Du Dir denken kannst, doch taugen sie hoffentlich als Kristallisationskerne; ich werde sie an ihrem Platz jeweils ein bißchen erläutern und mit den im- oder expliziten Fragen verbinden, zu denen ich von Dir gern etwas hören würde.
Die rhetorische Frage, die ich an den Anfang setzen müßte, lautete allerdings: Gibt es das überhaupt noch? Richtige, unverfälschte Gespräche über Gedichte zwischen, wie es so (un)schön heißt, «anerkannten» DichterInnen? Gespräche also, die nicht einfach von den hunderterlei Facetten des Literaturgeschäfts überlagert werden, auch keiner strategischen Kritik oder Lobhudelei dienen sollen, sondern sich wirklich um das Wohl und Wehe von Gedichten drehen? Das war, wenn ich mich recht erinnere, einmal eine Frage unter Eurem Kirschbaum (oder Birnbaum?) in Odenthal, nach einem wunderbaren Abendessen, und die DLF-Profis am Tisch begannen sofort, eine kleine Sendeleiste zu komponieren, nur mal so angedacht, die Zungen schon ein bißchen schwankend, dann stieg der Mond über die Wiese («Warum schreiben Sie eigentlich keine Gedichte über den Mond?»), kurz und gut, wir saßen alle in einem originalen JB-Text, und es sind tatsächlich Deine Texte, die diese Frage beantworten, mit allen Stimmen darin, Zitate in Anführungszeichen, Zitate in Klammern, Zitate in Versalien und kursiv, und natürlich die Decknamen, Anreden, Kürzel, diese Reste von Gästen everywhere. - Hier rutsche ich, entgegen der ursprünglich von mir gedachten Reihenfolge, schon in den Punkt poetische Kommunikation. (Nun gut, vielleicht ist das auch der richtige Ausgangspunkt, obwohl ich zuerst davon reden wollte, wie ich überhaupt begonnen habe, Jürgen Becker zu lesen. Lesen ist schon nicht ganz das richtige Wort. In den siebziger Jahren, zu deren Beginn ich gerade fünfzehn wurde, habe ich von der aktuellen Literatur so gut wie nichts wahrgenommen - außer Sachbüchern, meine ich, politischem Zeug usw., aber keine zeitgenössische Prosa und erst recht keine Gedichte; damit fing ich erst in den Achtzigern wieder an. Das erste Buch von Dir, auf das ich stieß, war ausgerechnet Eine Zeit ohne Wörter, und ich war davon völlig hingerissen. Daraufhin interessierten mich auch die Gedichte, und eins der ersten, die sich mir wirklich eingeprägt haben, war Am Stadtrand, Militärringstraße, weil ich darin jenes Erkenntnismoment, das mir an Gedichten wichtig ist, in seiner ursprünglichsten Form, der Erleuchtung - um den Erkenntnisbegriff ein wenig abzurücken vom herkömmlichen, viel zu eingeengten und systematischen Verständnis davon -, ganz wörtlich wiederfand: diese brennende Front der Forsythien, an der ich früher unzählige Male vorbeigefahren bin, immer zu der Stunde, in der die Männer auf den Wiesen Fußball spielen, ist aus meinem Kopf nie wieder verschwunden, weil Du sie benannt hast. Als ich das Gedicht zum ersten Mal las, lebte ich schon ein paar Jahre in Berlin, und bis zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewußt, daß die rheinische Gegend, in der ich aufgewachsen bin, in mir überhaupt irgendeinen Eindruck hinterlassen hat. Erst in Deinen Gedichten spürte ich sie plötzlich, wie Ablagerungen des langen, sprachlosen Alltags in einer Lebenswelt, die damit endlich «umspringen» konnte nach Berlin, so, als habe jemand für mich etwas aus meiner Biographie festgehalten, das ich selbst damals nicht festhalten konnte oder wollte. Ich erinnere mich allerdings, daß Du, als ich Dir in den späten Achtzigern davon erzählte, damit Deine Gedichte als eine Art «Heimwehgedichte» abgetan sahst - das finde ich immer noch ungerecht, denn tatsächlich bist Du, und sei es wider Willen, durchaus ein Chronist bestimmter Gegenden und bestimmter Jahre.) Aber zurück zur poetischen Kommunikation, d.h. zu dem, was ich darunter auch verstehe. Zweifelsohne ist es ein Verdienst Deiner rund zwanzig Jahre beim Deutschlandfunk, daß in diesem Sender Gedichten überhaupt und vor allem auch den Gedichten von jüngeren AutorInnen ein Programmplatz offenstand, an dem nicht nur (D)eine eingeführte lyrische Generation oder Schule zu Wort kam, sondern eine Vielzahl von anderen Stimmen und Sprechweisen. Ich habe das immer als ausgesprochen ermutigend empfunden, nicht nur, weil diese Aufmerksamkeit für neue Tendenzen in der zweiten Hälfte der Achtziger auch mir zugute gekommen ist, sondern weil es mir als ein bemerkenswertes Beispiel für die Kommunikationsfähigkeit erscheint, die Gedichte - entgegen den landläufigen Vorurteilen - mobilisieren können, wenn ihnen nicht automatisch das billig zu habende Klischee vom weltabgewandten, an allem und jedem im Übermaß leidenden Sprechen unterlegt wird. Daß man daran leiden kann, gerade in den Regeln und Ritualen des Literaturbetriebs, hast Du zwar wie kaum ein anderer in Deinen Texten beschrieben. Es ging mir vor zwei Wochen noch einmal auf, beim LCB-«Tunnel über die Spree», sprich: zwei Tage Literaturbetrieb satt, übertitelt «Ist die Avantgarde am Ende?» oder so ähnlich, über dreißig AutorInnen und KritikerInnen, siebzehn Werkstatt-Lesungen á zwanzig Minuten plus Diskussion im Stile der Gruppe 47, aber die einzelnen Lesungen wurden, wie üblich, keiner noch so krachenden These gerecht, ebenso, wie komplizierte Argumente kaum je eine Chance hatten gegen die offenen oder verdeckten Freund- und Feindschaften, die durch solche Runden laufen; daß es so gut wie keine Lyrik gab, sollte ich vielleicht noch anmerken, und ich war wohl die einzige, deren gesamte Arbeit sich um Gedichte dreht. Mehr will ich darüber jetzt nicht sagen, denn Du kennst diese Atmosphäre besser als ich; mir kam es vor wie die Stimmung in Deinen Berlin-Gedichten von Anfang der Siebziger - einmal ging ich in der halben Dämmerung hinunter an den Wannsee, fand, wie gleichzeitig glatt und bewegt das Wasser sei, wie grau in grau die Waldlinie, der Horizont, der Himmel ineinander übergingen, wie davor die grauen Möwen flogen, wie das Moos auf der grauen Balustrade wucherte, von bunten Wachsflecken durchsetzt, wie vom Teufelsberg die weißen Blitze funkten, wie das Wasser gegen die Bootsketten schlug, wie die Boote schwerfällig zurückquietschten, und von oben drang das Gelächter herab, animierte Stimmen von der hellen Terrasse, ich trank mein Glas aus und warf es im hohen Bogen in den See, ein Gedicht / dagegen, wochenlang konzipiert /, ruiniert / seinen Mann und richtet sich gegen die Interessen der Familie ... Nichts Neues also im Westen, obwohl mir überhaupt nicht daran liegt, irgendeinem empfindsamen Kulturpessimismus das Wort zu reden. Gerade das nicht! Texte, die durch keinerlei Verhältnis zu den professionellen Deformationen und den realen Medienbedingungen gebrochen wären, wie immer sich das im einzelnen formuliert, verfehlten doch schon durch pure Zaghaftigkeit das einzigartige Erkenntnisvermögen poetischen Sprechens (nichts Neues übrigens auch im Osten). Deine Gedichte, setze ich damit zum dritten oder vierten Mal an, spiegeln in meinem Verständnis auch die vielfältigen Verschränkungen, in denen poetisches Sprechen nach einem Kontext sucht, und zwar von sich aus, als ubiquitäre Sehnsucht nach Anschlüssen an das, was rundum passiert. - Anschlüssen, die das Gedicht als Gedicht sucht und in seiner Sprachform zu realisieren sucht. Darin waren wir uns, glaube ich, immer einig, wenngleich ich mir nie sicher gewesen bin, ob wir ganz dasselbe meinen. Einerseits ja. Seit den Tagen des «angry young man», der gegen den Status quo einer behäbigen (Literatur-) Gesellschaft anschrieb - da ging ich gerade in die zweite Klasse und bastelte nachmittags, in der Astgabel eines Apfelbaums hockend, an mehrteiligen Werken mit Titeln wie «Fischkutter-» oder «Leuchtturm-Gedicht» -, hast Du immer wieder programmatische Marksteine gesetzt und Begriffe geprägt, die eine zeitgemäße poetische Sprache mit anderen ästhetischen Feldern verknüpfen sollten, beispielsweise der Fluxus-Bewegung, der Fotografie oder dem Hörspiel, offenbar ziemlich unbekümmert darum, was an diesen Rändern des Sprechens noch das Eigene des Gedichts sein sollte. Im Falle der Zeit ohne Wörter war es ein Verfahren, das mich, siehe oben, als genuin poetisches vollkommen überzeugt hat. Aber für andere Texte, auch wenn sie ausdrücklich Gedichte oder Langgedichte heißen, gilt Dein eigener Einwand: «Darüber ließe sich auch außerhalb eines Gedichts etwas sagen», schreibst Du in den «Akzenten» (1/1994), «Berichte von Reisen, Anekdotisches, Geschichten aus der Kindheit, einfach zu erzählen.» Es ist spannend, Dich an derselben Stelle eine Gegenposition beschreiben zu sehen, und zwar anhand der Gedichte von Monica Adolph, «die einen rigorosen Schnitt ziehen zwischen unserer jeweiligen Lebens- erfahrung und dem, was daran poesiefähig ist», was bedeute, «daß sie erst gar nicht die Wirklichkeit in die Sprache des Gedichts» übersetzten, «sondern die Gedichte selber» führten «die Installationen aus, in denen sich die Wörter und Sätze nicht bedeutungsfrei, aber im freien Spiel der Bedeutungen» verbänden. Deine Beschreibung des eigenen Arbeitens dort aber geht von einem seinen Eindrücken ausgelieferten Subjekt aus, auch wenn dieses anderswo nicht als monolithisch, sondern als multiples definiert wird: Der Verfasser verfüge ja «nicht nach Belieben über ein sprachliches Repertoire, für das er dann die poetisch nutzbaren Gegenstände» aussuche, sondern er befinde sich «in einem Zustand notorischer Sprachlosigkeit», von dem ihn nur «ein unvorhersehbarer und auch nur selten definierbarer Impuls zu erlösen» vermöge. Mit anderen Worten: das, was Dich umtreibt, sind vorsprachliche Momente, sie stehen im «Zusammenhang mit biographischen Beziehungen, geschichtlichen Hintergründen, Erinnerungen und Imaginationen, die dem Verfasser» bei bestimmten Anlässen «als Sujets in Bewußtsein gekommen» seien. Es war, glaube ich, Dylan Thomas, der irgendwo unterschieden hat zwischen Dichtern, die «aus dem Wort heraus» schreiben, und anderen, die «darauf zu» schreiben. Was also passiert mit diesen Impulsen, die in Deinem Fall früher auch Prosatexte wurden, Bildsequenzen, Hörspiele? Wann und wie entscheidet sich bei Dir, daß sie auf ein Gedicht zustreben, und was ist dann das Eigene und Eigentliche der Gedichtform für Dich? Oder anders gefragt: Warum hat sich am Ende gerade die Gedichtform durchgesetzt? - Mir fällt an dieser Stelle keine richtige Überleitung ein, aber jetzt wird es höchste Zeit für das Stichwort vom digitalen Schreiben. Was sehr spekulativ ist, wie ich gerne zugebe, doch habe ich das Gefühl, mit diesem Gedanken ziemlich nah an etwas heranzukommen, das mich an Deinen Texten immer schon beschäftigt hat. In den letzten drei Jahrzehnten hat Dein Schreiben der deutschsprachigen Lyrik einen spezifischen Ton hinzugefügt, der heute zeitgemäßer und aktueller klingt denn je. Die Verfahren, die Du dafür entwickelt hast und die einen bestimmten Bilderfluß erzeugen, den unsereins sofort mit Jürgen Becker identifiziert, wirken, obwohl Du es an zivilisationskritischen Motiven nicht fehlen läßt, im Zeitalter der Digitalisierung und der Video-Ästhetik plötzlich verblüffend eingängig; sie passen viel besser zu den neuen Rezeptionsmustern einer fortgeschrittenen Medienkultur als manche anderen Textverfahren, die in und seit den sechziger Jahren entstanden sind. Entgegen Deinen eigenen Beschreibungen (und vielleicht auch Deiner eigenen Wahrnehmung), die von den besagten vorsprachlichen Impulsen, undefinierbarer Affiziertheit usw. ausgehen - fast so, als erschiene das jeweilige Gedicht wie von selbst in Deinem Kopf und dann auf dem Papier -, ziehen Deine Texte ihre Wirkung in meinen Augen genau aus dem Gegenteil, nämlich aus der ganz präzisen, bewußt und virtuos eingesetzten Zerlegung dieses vorsprachlichen Materials in Denk-, Bild- und Sprachsplitter, die nahezu universell verwendbar sind. Dabei schießen die Amseln, Birnen und Pappeln, die Jahreszeiten und die Nachrichten und die Landkarten, bestimmte Orte, bestimmte Namen und Haltungen zu immer neuen Gebilden zusammen, ohne daß sich das Verhältnis zu den Ausgangsmaterialien grundlegend verändern muß. Im Gegenteil: diese Stoffe zu (be)schreiben bedeutet, mit ihnen auf eine ganz bestimmte Weise umzugehen. Natürlich gilt das mutatis mutandis für jede Kunst - der Gebrauch formaler Mittel und Stilelemente ist per se instrumentell, und KünstlerInnen sind nun einmal Leute, die - über Interesse, Ergriffenheit und Gefühle hinaus - etwas zu machen verstehen. Aber ich halte es für möglich, daß Deine Arbeit darin bereits einen Schritt weiter gegangen ist, vielleicht beeinflußt durch die ständige Nähe zu Medien, die einem weit größeren Veränderungsdruck unterworfen sind als Literatur. Vielleicht wäre «Formatierung» eine ebenso angemessene Bezeichnung für diese Zerlegungen. Wenn ich dafür den Begriff «digital» verwende, dann nicht in dem Sinne, daß es in einem solchen Schreibverfahren nur «null» und «eins« gäbe, also eine serielle Repetition nach Art der Minimalisten. Die technische Pointe des Digitalen besteht zwar darin, daß das Ausgangsmaterial in für den Abtaster gleichförmig lesbare Mikrostrukturen zerlegt wird, doch das Ergebnis sind brilliante, störungsfreie Oberflächen, die ihre Stoffe ungleich perfekter präsentieren als die im Analogverfahren gewonnenen Bild- und Tonträger. Wenn also in digitalen Medien (Ver-)Störungen auftreten, schräge Bilder, wüste Verzerrungen, scheppernde Geräusche, sind sie nicht mehr das Ergebnis technischer Unzugänglichkeit oder Unzulänglichkeit, sondern Teil des stilistischen Verfahrens. Das ist jedenfalls meine These. Das Gedicht begegnet an diesem Punkt einer überwältigenden Möglichkeit - dem technischen Vermögen, beinahe alles ausdrücken zu können - und einer nicht minder überwältigenden Gefahr: der nämlich, daß es nicht mehr beiträgt zur Unverfügbarkeit der humanen Substanz (hier eher hypothetisch als normativ-ontologisch gedacht), sondern im Gegenteil, daß es teilhat an ihrer gänzlichen Verfügbarmachung, der buchstäblichen Zerlegung und Manipulation bis in die letzte Zelle hinein, die inzwischen die menschlichen Gesellschaften von innen heraus in eine Art Volltransplantat zu verwandeln droht. Ich weiß nicht, ob irgendein Gedicht dieser Aporie entgehen kann, gleichzeitig gemacht zu sein und unverfügbar sein zu wollen. Am Ende ist genau das die «Signatur der Zeit», und an diesem Punkt höre ich auch auf. Hier beginnen nämlich für mich alle Fragen wieder von vorne, siehe oben, tektonische Verschiebungen, und deshalb bin ich nun fürs erste auf Deine Antworten gespannt.
Kirschbäume und Forsythien klingen nach Frühling, aber wir haben September, «Deinen September», bin ich versucht zu sagen, weil ich mich erinnere, daß das ein wichtiger Monat für Dich ist -

sincerly yours

Brigitte


Odenthal, im Dezember 1994

Liebe BO,
es war der Kirschbaum, unter dem wir an einem heißen Sommernachmittag auf unserer Odenthaler Wiese saßen, und wie ich sehe, hast Du die Situation offensichtlich als eine Art von Eingangssituation wahrgenommen, die unmittelbar in die Landschaft meiner Texte führt. Richtig daran ist, daß die Anlässe zum Schreiben mitunter gleich vor der Stalltür erscheinen, und wenn es dabei immer dieselben sind (die Amseln, der Häher, der Specht; das Geräusch der fallenden Birnen im Herbst; das flirrende Spiel von Licht und Schatten; der Nachbar auf seinem Traktor; der Blick über die Wiesen hinab ins Tal und die Hügel hinauf in den riesigen Himmel, in dem die Abendmaschinen auftauchen etc.), dann kommen mir diese Anlässe, in ihrer Vertrautheit, zugleich immer ganz unvertraut, überraschend und neu vor. Und so suchen sie denn nach einem weiteren Text, nach einem neuen Gedicht, das ihr Vorhandensein, nein, nicht einfach bestätigt, sondern in einen Zusammenhang rückt, der noch nicht definiert und Teil einer Topographie ist, die für den Schreibenden immer noch etwas Dunkles und Unbekanntes hat.
Nun sind das die einzigen Schreibanlässe, die mir so erkennbar und bekannt sind, daß ich sie unvermittelt benennen kann; sie gelten auch nur für ein paar Kapitel in der Geschichte meines Schreibens. Darüberhinaus gliche die Rekapitulation dessen, was einen zum Schreiben bringt, der Suche nach längst zugewehten Spuren, und sie wäre ergiebig nur dann, entdeckte man dabei übersehenes Terrain, unerschlossenes Gelände. Aber darüber, wenn ich Deinen Brief richtig verstehe, wollen wir uns ja auch nicht verständigen, obschon der verschlungene Weg von Anlaß und Motiv hin zu einem Text insofern etwas Sonderbares hat, als am Ende diese und keine andere Textform erscheint. Warum ein langes, erzählendes Gedicht, warum nicht erzählende Prosa? Oder warum die Stimmen, die einen beim Schreiben begleiten, nicht gleich in einem Hörspiel untergebracht? Nur selten eine Frage, wie sich der Verfasser im Vorhinein entscheidet; in der Regel ist es ein unbestimmtes Spüren von Bewegung und Rhythmus, von strukturellen Mustern, von Klängen und Bildern, das die Wortfolgen entstehen läßt und zu bestimmten Formen des Sprechens führt.
In den vergangenen Jahren war es vor allem dieser Impuls, der die Ströme mehr oder weniger langer Gedichte hervorgebracht hat, und wenn dabei auch kurze Sachen entstanden sind, gehören sie doch zum Kontext von Bewußtseinsvorgängen, die sich durch weit ausgedehnte Räume bewegen. Diese Räume, die wechselweise imaginäre wie konkret vorhandene Orte, Gegenden und Landschaften sind, stehen im engsten Zusammenhang mit Zeiten, in denen sie erfahrbar werden, wobei diese Zeiten sich nicht in klar unterscheidbaren Epochen zu erkennen geben, sondern in fließenden Phasen, in einem stockenden Geschiebe, in einem beweglichen Ineinander von Augenblicken und Jahren, Aktualitäten und Vergangenheit. Den Schauplatz dieses Zeit-Geschehens kann nur das Bewußtsein herstellen mit den ihm eigenen Arten des Agierens, und das sind dann die Schübe der Erinnerungen und Assoziationen, die Wachträume und Imaginationen. Sie alle zu verknüpfen, oder auch zu entzerren, macht die Arbeit am Gedicht aus, wobei das Gedicht keineswegs diese Bewußtseinsvorgänge direkt zu spiegeln versucht - es ist eher so, daß sich das Gedicht, natürlich unter der Hand seines Verfassers, um die Herstellung einer eigenen Bewußtseins-Realität bemüht, an der man die Korrespondenz zwischen Sprache und sowohl den Vorgängen, die sie hervorrufen, wie den äußeren Phänomenen, die sie zitiert oder beschreibt oder benennt, ablesen kann.
An einer Stelle Deines Briefes schreibst Du von «der ganz präzisen, bewußt und virtuos eingesetzten Zerlegung dieses vorsprachlichen Materials in Denk-, Bild- und Sprachsplitter, die nahezu universell verwendbar sind.» Nun ja, das mag im Nachhinein als Machart so erscheinen, obschon der Verwendbarkeit recht enge Grenzen gesetzt sind, schon deshalb, weil die Methode, nach der das eine Gedicht entstanden ist, für das nächste schon wieder neu erfunden werden muß. Es gibt keine abrufbare Methode, kein vorgeprägtes Muster, nach der sich ein jedes Stück poetischer Sprache zusammenfügen ließe; ich fange immer wieder bei Null und Nichts an, und das allererste Problem ist dabei die leere weiße Seite und wie darauf ein Wort, der erste Satz zu stehen kommt.
Natürlich werden die Satzfolgen, die Brüche und Sprünge, die Assoziationsketten und Bilderrisse alle gemacht, wie sonst, indessen ist dies ein Vorgang, der auch beim Nachdenken darüber nur recht vage zu rekapitulieren ist, so miteinander verschmolzen erscheint darin Inspiration und Kalkül, Zufall und Knowhow, Unbewußtes und Konstruiertes, Handwerk und Hirngespinst, Gesteuertes und Selbsttätiges, Artistik und die wahnhaft logische Dramaturgie des Traums. Wenn Du am Beispiel der Poetin Monica Adolph zwei gegensätzliche Positionen des Gedichteherstellens auszumachen meinst, dann wären auch diese Positionen nur scheinbar getrennte, indem sie nämlich einander weder ausschliessen noch bedingen; vielmehr gehen sie, phasenweise, ineinander über, immer dann, wenn beim Schreibvorgang einmal der Impuls aus dem Wort und einmal von der Sache, vom Gegenstand kommt - in solcher Art des Schreibens, die ja weder rigoros auf die Autonomie noch blind auf die Transportfähigkeit der Sprache setzt, geht alles Entweder-Oder in der Fusion der Möglichkeiten auf, die sich im Schreibverlauf zu erkennen geben. Und dazu, wenn es denn vorsprachliche Momente sind, die den Schriftsteller umtreiben, dann mag er darin eben die Voraussetzungen, die Begleitumstände seines Metiers sehen - denn womit ist er denn in seinem Kopf so oft zugange, der Schriftsteller, als mit diesem ganzen Wirklichkeits-Material, das ihn einmal sprachlos zu machen droht und zugleich ihm nichts anderes übrig läßt, als Sprache bitte sehr in Gang zu bringen.
Im Übrigen kommt mir solche Beschäftigung oft recht geisterhaft vor, indem sie sich nämlich im Nachhinein herausstellt als eine Recherche nach dem, was irgendwie schon längst da ist. Anders gesagt: es kommt mir oft vor, als sei jeder Text, den ich schreibe, in meinem Inneren bereits vorhanden, nicht fertig und formuliert, aber doch in seinem Keim. Schreiben heißt dann nichts anderes als herauszufinden, was Thema des Schreibens ist und zu welchem Ergebnis es führt. Schreiben als archäologischer Vorgang, gewissermaßen - so habe ich es irgendwo anders schon mal gesagt, und das heißt dann auch, daß es um die Entdeckung von Schrift geht, die irgendwo in einem angelegt ist, und deren Freilegung in seltenen Momenten gelingt, wenn sich beim Schreiben etwas offenbart, was sonst im Dunkel des Unbewußten verborgen liegt. Das mag sich vielleicht mysteriös anhören, hat aber viel mit einer Praxis zu tun, die bei aller Machbarkeit der sprachlichen Gebilde nicht ohne einen entscheidenden Anteil von Irrationalität, von Unvorhersehbarkeiten und Rätselhaftem auskommt. So würde ich mich auch dem Auftrag, diesen Vorgang zu versuchen bis ins Letzte zu analysieren, entziehen - nichts fürchtet der Photograph mehr, als wenn beim Entwickeln die Tür zur Dunkelkammer aufginge; das hereinfallende Licht würde seine Arbeit unversehens vernichten.
Indem dieser Vergleich bereits verrät, worauf Du anspielst, nämlich die Nähe, der Einfluß der Medien auf mein Schreiben - sicher kann ich da einen engen Zusammenhang bestätigen, der indessen über die elektronischen Medien hinausgeht; er bezieht vor allem ästhetische Vorgänge ein, die in visueller und akustischer Gestalt erscheinen, also die bildende Kunst, die Musik. Daß sich im Zuge solcher Korrespondenzen der Poet an den, wie Du sie nennst, Rändern des Sprechens bewegt, ist offensichtlich dann, wenn zeitweilig ein Abschied von den Wörtern genommen wird und poetische Intentionen sich in akustischen oder optischen Artefakten zu verwirklichen suchen - Versuche, die ich längst nicht mehr unternehme. Mir ist auch an den inzwischen gängigen Grenzüberschreitungen wenig gelegen, und mit Begriffen wie «Multimedial» oder «Interdisziplinär» kann man mich jagen - entscheidend bleibt dagegen der ästhetische Kontext, in dem sich das eigene Denken und Empfinden bewegt, diese spezifische Art von Sinnlichkeit, die Augen und Ohren gewissermaßen zu Medien der eigenen Arbeit macht. Denn das ist es ja, worauf es ankommt: nicht daß man sich vom «Zeitalter der Medien» anpassen und konditionieren und beeinflussen läßt, sondern daß sich das Instrumentarium der eigenen Sinne selber als Medium einsetzt, indem es nämlich, via Bewußtsein, jedwede Wirklichkeit, die reale wie die artifizielle, wahrnimmt, aufnimmt, speichert und ins ästhetische Produkt übersetzt.
Sicher sprechen dabei wieder die inneren Beschaffenheiten mit, die mentalen Prädispositionen. Es ist nicht so, daß die Medien einen inzwischen derart konditioniert hätten, daß nun gleich der ganz eigene Stil ihrer flatternden Syntax folgte, es ist allenfalls eine Wechselwirkung, wobei man früh entstandene Voraussetzungen mitbringen muß, um in Kontakt zu sein mit visuellen und akustischen Äußerungsweisen. Von Jugend an interessierte mich Gemaltes, Komponiertes und Gebautes oft mehr als Geschriebenes, und nur der Umstand, daß sich meine Talente aufs Sprachliche beschränkten, hinderte mich an praktischer Tätigkeit in den Nachbarkünsten. In jedem Fall blieb ein Gefühl der Zuständigkeit, auch der Kollegialität, für künstlerische Zusammenhänge, in denen man sich selber aufhielt, und für die Menschen, die in ihrem je eigenen Metier an diesen Zusammenhängen mitwirkten.
Natürlich kommuniziert man so nicht jeden Tag mit dem Zeitgeist, und es gibt Tendenzen in den Künsten, die mir so fremd bleiben, daß ich mir vorkomme wie völlig außerhalb meiner Zeit. Mag ja sein, daß im «Zeitalter der Video-Ästhetik» meine Texte «verblüffend eingängig» wirken, nur weiß ich, daß ich nach dieser Richtung hin inzwischen fast taub und blind bin. Nach einem Video von MTV sehne ich mich geradezu nach einer Seite von Proust. Und was «digitales Schreiben» ist, das muß ich meiner Briefpartnerin überlassen, deren progressive Interpretationsverfahren ich zwar bewundere, aber nicht so recht nachvollziehen kann. Vielleicht, daß wir uns näher kommen, wenn ich auf das inzwischen wohl antiquierte Prinzip Collage verweise, jene Herstellungsweise, die aus ganz heterogenen Materialien Gebilde schafft, die so etwas wie die widersprüchliche Struktur unseres Bewußtseins spiegeln, und zwar in der Erfahrung unserer widersprüchlichen Wirklichkeit. Mir wäre diese Herstellungsweise noch ziemlich vertraut, aber möglich, daß ich Dich an diesem Punkt total falsch verstehe.
Wie immer, ob der poetische, der künstlerische Beitrag zur «Unverfügbarkeit der menschlichen Substanz» am Ende gleich Null ist, das kann man sich ja fragen, wenn man nicht schon längst hat einsehen müssen, daß menschliche Substanz, was immer das ist, bis zu ihrer Vernichtung verfügbar geworden ist. Im Gedicht, im Kunstwerk sie gerettet zu sehen, eine trostreiche Utopie, stünde dagegen nicht der Verdacht, daß die Kunst selber längst alle Unschuld verloren hat. Mich beschäftigt schon eine Weile die Frage, ob die Kunst nicht einen komplizenhaften Anteil hat am verstörenden Zustand unserer Gesellschaft. Es ist ja nicht so, daß, wie Kunst-Ideologie es notorisch behauptet hat, alle Desaster, wie sie von den Künsten vorgezeigt werden, ihre Rechtfertigung im Protest gegen die Desaster der Wirklichkeit finden; oft sieht es bloß so aus, als delektierten sich die Künste am Kaputten, am Grauenvollen, am Katastrophenhaften, als hätten sie darin eine trübe, aber ergiebige Quelle aller ästhetischen Gewinne und Genüsse. Dies soll kein abschließendes Verdikt sein, denn dazu wären ein paar Argumente mehr vonnöten - aber auch ich breche hier ab. Es ist ein dunkler Wintertag, aber durchs Fenster kann ich den kahlen Kirschbaum sehen, unter dem wir an einem Sommertag gesessen haben, und das Gespräch, das damals begonnen hat, ist vielleicht jetzt weiter gegangen im Schreiben über das, was wir weiterhin so tun -

ganz herzlich und mit einem Dank

Dein JB



(aus: Jürgen Becker: Gedichte, in: ZdZ Heft 5)