Ilya Kutik

Gedichte und poetologische Prosa




Aus dem Russischen
von Felix Philipp Ingold


Katze, Bögen, Balthus

1

Eine Hand hebt, husch, den Vorhang und
verschwindet wieder. Der Spalt, von Falten
überwölbt, gibt kurz den Blick frei fürs Kund-
schafteraug, das unterm Brauenbogen alten

Lüsten frönt - bis die Pupille bricht, zerstiebt
im Wimpernwald. So sinkst du hin,
und auch der Ort versinkt, an dem dir liegt -
du fällst und fällst, Heubühne kippt,

knallst aufs Parkett... Glut im Kamin...
Im Sessel sitzt ein junges Ding,
die Beine hochgezogen, Knie zu Kinn,
im Faltenbogen sieht man den Beginn

der Ohren, angeschmiegt ans Fell... Und sie,
den Spiegel in der Hand, sieht ihren eignen Blick,
die Wimpern, sieht den Kater, blau wie nie,
in dessen Augen jetzt das Feuer blitzt.


2

Die Katze kreischt wie im Kamin das Scheit. Das Scheit
kreischt im Kamin, als wär's ein Kater. Sind
Metaphern gleich Arkaden - umkehrbar? Im Streit
zwei Schwerter, die sich kreuzen: wer gewinnt? -

und...oder ein Computer neben Leonardos Werken...
Aufgabe: bei Sturmwarnung dafür zu sorgen,
dass die Bögen ihren Widerstand verstärken,
statt dem Druck zu weichen... Mach's mit Worten

und vergleiche: überm Brustansatz der Liebsten
hängt die grösste Perle immer in der Mitte...
Auch das Gewölbe lässt sich dort nur schliessen,
wo im Schlussstein alle Bögen ineinanderschiessen.


3

Wenn ich «ja-ja» sage -
fall mir ins Wort. Denn
sagen wollte ich: «nein-nein!»

Der Blick rutscht vom Kragen
hinunter an Falten, an Borden
und gleitet ins Grübchen - hinein!

Dem Aug ist's verziehen. Es sieht
über sich, gewölbt, eine Kuppe
und vor sich, gerümpft, den Strumpf

unterm Knie... Die Katze blinzelt müd,
der Schlaf in ihr krümmt sich als Puppe,
als blauer Bogen spannt er ihren Rumpf.

Für F.Ph.I.


Der Kater

1

Mein Kater, wenn er liegt, sieht aus wie Skan-
dinavien: sein Kopf ruht auf norwegischem Gebiet
(dort, wo das matte Auge glimmt, kann
ich mir Oslo denken, Richtung Süd...).
Der Kopf ist durch die Grenze mit dem Leib
vernäht. Ein bisschen patriotischer sind Schwanz
und Pfoten: befinden sich im Schwedenland.
Doch Schneider, leider, bin ich nicht - leicht
kann der Kater (wie auf Manets Bild,
wo er das Lager mit der Odaliske teilt)
zu mir herüberspringen, mir beweisen: unsre Liebe gilt
viel mehr als jene eines Katers zur Geographie,
denn Geographie versteht ein Kater nie...


2

...Frau Tod - eine arabische Odaliske -
versengt das Fleisch von rechts nach links.
(I.K., 1979)

Die windet sich im Selbstgenuss
allein auf ihrem Bett...

Mein Kater ist's, der mich erinnern muss:
vor meinem innern Auge steht sie stets -

Olympia, ja, sie posiert - von links nach rechts -
sich selbst zur Lust. Der Kater hockt
(á la Baudelaire) zu ihren Füssen - als Boykott
gewisser «Regeln», doch zuletzt
hat Manet in derselben Pose - wenn auch (seltsam!) jetzt
von rechts nach links - kurz vor dem Tod
Jeanne Duval auf dem Pfühl
gebettet,
doch im Bild (von Baudelaire bestellt)
ist kein Kater - «fort-da!» - dargestellt...


3

Der Wechsel der Seiten, und nicht der Länder,
d.h. des Vektors - diesen Pfeil besitzt
Frau Tod; mehr vermag der Kater nicht zu ändern
an der Wunde, die das Leben ist,

als auf einer Beule - die Münze. Sein Gang
ist wie ein Band aus Samt,

das alle Grenzen schleift...
Der Kater träumt sein Leben - live.
April/28. Oktober 1991


Anmerkung des Autors: Das vorliegende Gedicht nimmt - vergleichend - Bezug auf Edouard Manets Gemälde «Olympia», das eine von links nach rechts auf dem Bett liegende «arabische Odaliske» zeigt, sowie auf das von Baudelaire eigens beim Maler bestellte Bildnis seiner Geliebten Jeanne Duval, die von rechts nach links ausgestreckt ist; von rechts nach links verläuft die arabische Schrift, von links nach rechts die lateinische. Allgemein ist für mich die Bewegung von rechts nach links so etwas wie ein Euphemismus für den Tod. Tatsächlich ist Jeanne Duval, kurz nachdem Manet sie gemalt hatte, gestorben.



Metapher

Das Paradoxon wird, versteht sich, zur Masseinheit der Komplexität, wenn es zu jedem «ja» ein «nein» (und nicht nur eins) gibt, - und umgekehrt. Das hatte Rosanow1 gut im Gespür, der an einem Tag einen Artikel darüber schreiben konnte, was Puschkin für ein Genie sei, und am andern Tag - das Gegenteil; doch weder dies noch jenes ist als Wahrheit widersprüchlich. Darüber gibt's bei Florenskij2 manches zu lesen.
Tatsache aber ist, dass das Paradoxon, als Verbindung solcher «Gegensätzlichkeiten», solchen «ja»- und «nein»-Sagens, leicht zu «widerlegen» ist - durch ein anderes Paradoxon, wobei es - im Ergebnis - bloss zu einem interessanten, «amüsanten» GEDANKEN wird, mehr nicht.
Die einzige Komplexitätseinheit, die nicht «widerlegt» werden kann, ist die METAPHER. Nur in ihr und durch sie lässt sich jedwedes «ja» und jedwedes «nein» zusammenführen, sie ist das einzige überzeugende Dokument ihrer Ehe, die geheiligt ist durch ihren Kunstcharakter. Ein anderes gibt's nicht.


Rhythmus

Die Welt, in der der Dichter lebt, ist die Welt eines nicht von ihm selbst vorgegebenen Rhythmus. Mit dem Rhythmus beginnt für den Dichter alles, einschliesslich der Sprache. Was gemeinhin «Inspiration» genannt wird, ist bei ihm, wie bei einem Radioempfänger, nichts anderes als der Druck auf die Power-Taste und die Verschiebung des Tuning-Rädchens in sich bis zu dem Punkt, wo in seinem Innern ein optisches Signal aufleuchtet, welches deutlich macht, dass die Wellenvibration der unsichtbaren Antenne mit dem Empfangsgerät nun «übereinstimmt». Als «geheimnisvoll» erweist sich bei alledem der Augenblick des «Einschaltens», der völlig unerwartet eintreten kann - im parallel-abweichenden Rhythmus DIESES Lebens, - der aber auch als Folge langer meditativer Einkehr erfolgt. Wobei eine derartige «Übertragung» gerade auch schon das Bild in sich trägt, jedoch bloss in seiner rhythmischen Form.


Metrum

Das Metrum ist das irdische Äquivalent JENES Rhythmus.
Das Metrum ist für den Dichter das gleiche wie die Noten für den Komponisten, d.h. eine Art und Weise, Laute zu empfangen und zu übermitteln mit Hilfe einer gewissen algebraischen «Eingeschränktheit». Des öftern kriecht das Metrum vor dem Rhythmus wie eine Raupe, deren Schritt - ein Sich-Aufbäumen und Sich-Voranwälzen - beinahe das Schema des Jambus abgibt.


Reim

Der Reim ist die logische Fortsetzung des Metrums und bildet seine «Grundlegung». Das Metrum als Aufzeichnung des Rhythmus, d.h. der Klangvibration des Bildes, gliedert den Klang wie einen Platonschen Androgynen in weibliche und männliche Hälften, welche ewig nach Vereinigung streben. Der Versuch, sich zu vereinigen - und die Unmöglichkeit des Unterfangens - ergeben den Reim, kraft dessen sehr oft auch das Bild sich einstellt.
Eigentlich ist der Reim für mich so etwas wie zwei Klemmen, deren Verbindung das Bild unter Strom setzt und sein Feld «bildet».


Poetik

Als ich jetzt aber über den Reim, das Metrum u.ä. redete, kam mir plötzlich in den Sinn, dass dergleichen ja Poetik genannt wird. Meines Erachtens muss dieses Wort sogleich - noch während es ausgesprochen wird - durch Gänsefüsschen arretiert werden. Das Gespräch darüber ist langweilig und sentimental. Wie ein Kuss auf den Spiegel.
Es riecht scharf nach Öl, wie von einem in Teile zerlegten Motor. Es ist viel interessanter, über die Fortbewegung zu reden als darüber, was sie «gewährleistet».
Ich reime nicht deshalb, weil - oder nicht SO SEHR weil ich es SO möchte, sondern deshalb, weil - nach meiner tiefen Überzeugung - draussen in der Welt sowieso alles gereimt ist. Und schon lange vor dem Aufkommen der Poesie. Sie macht nur einfach das Geheime offenbar, genauer - sie versucht dies zu tun.
Dem Reim entkommt man ebensowenig wie dem Schicksal. Darin liegt seine metaphysische «Unheimlichkeit». Hier ein Beispiel.
Die Schlinge des - bereits geschiedenen - Jessenin3 hat sich als Schärpe um Isadora Duncans Hals zusammengezogen. Selbstmörder sind alle beide. Freitod und Unglücksfall.4 Doch die «Zufälligkeit» ist hier nicht grösser als bei einem Paarreim.
Beim Reim, dessen Gesetzmässigkeit gerade darin besteht, dass er als Überraschungseffekt auftritt, und dies ist keineswegs ein Paradox, sondern ein Gesetz, das immer wieder neu zu entdecken ebenso schrecklich wie interessant ist. Deshalb kommt mir der freie Vers zumeist als «Eskapismus» vor, als ein Versuch, dem Schicksal zu entrinnen, sich zu verbergen vor ihm, obwohl es doch so oder anders «sich reimen» wird. Und als «gelungen» kann der freie Vers nur in jenen Fällen gelten, wo eine solche Fluchtbewegung vorab gleichsam durch das Schicksal selbst vorgesehen ist und als «Versmass» und «Rhythmus» in ihn eingeht.
Ich reime, weil ich Fatalist bin. Wenn ich an jedem Ellenbogen einen Engel spüre, empfinde ich keinerlei Notwendigkeit, mit ihnen die Masse der Wörter und Lautungen auseinanderzutreiben. Sie ist für mich nicht weniger körperlich als eine wirkliche Masse. Die Masse kann einen auch «er-
drücken», doch wenn das SCHICKSAL es will, wird's nicht geschehen: s i e - werden's durch- und zuendeführen... Ich wiederhole: ich bin ein Fatalist.
Ich glaube an den Reim wie Pythagoras an die Zahl. Und wie er, der Legende nach, sich an seine vier Inkarnationen erinnern konnte, so erinnere ich mich an eine Zeile aus Marburg - «und all dies waren Ebenbilder» -, welche sehr wahrscheinlich nicht nur VOR Boris Pasternak, sondern gar VOR Christi Geburt geschrieben wurde.5
Ich glaube an das Wort, d.h. - an Gott. Für mich ist offensichtlich, dass Schicksal und Charakter in direkter Abhängigkeit sogar zu seiner Akustik stehen.
Für mein russisches Ohr zum Beispiel stecken im Namen Gordon der gesamte Byronismus und sämtliche Quellen romantischen HOCHMUTS (russ. gordynja). Und selbst LORD klingt ja wie GORD (russ. für «stolz»). Der Name - als das allererste Wort des Menschen - hat eine seltsame Macht über seinen Seelenzustand und damit auch über sein Verhalten und sein Geschick. Woher kommt, sagen wir mal, das bekannte «Wen ruft die Glocke? - Sie ruft dich...» von John Donne, wenn nicht aus dessen eigenem Namen, der ihm mit seinen «donn-donn»-Lauten nicht allein diese Zeile diktiert hat, sondern sein ganzes seelsorgerisches Los?!
Wie das Ohr zum Echo, wie Narziss zum Spiegel, so verhält
sich der Dichter zu seiner «Poetik».

Der Stein, den man ins stille Wasser schmeisst,
Schlu-schluchzt genau so, wie du heisst -

sagt die Zwetajewa über Aleksandr Blok.6

Was Poesie ist, weiss ich nicht. Wie der Staub, der in den Falten von Hosentaschen und Mappen sich zusammenkrümelt, so häuft auch die Poesie in den Falten der Herzbeutel sich an, die wir dann nach aussen stülpen, wenn wir die Poesie aus ihnen extrahieren... Doch was ist Staub? Nach Angaben von Wissenschaftlern besteht er aus den feinsten Schüppchen unserer Haut, die wir wohl nicht weniger oft wechseln als die Schlangen. Poesie...Staub...Häutung... Qualvoll ist NICHT das Anhäufen, vielmehr das Warten - SOLANG es sich anhäuft, BEVOR es zu vernehmen ist...


Was und wie

Übrigens wird mir nun, nachdem ich ursprünglich zu berichten gedachte, wie ich schreibe, klar, dass ich gerade dies gar nicht kann. Was könnte denn beispielsweise ein Slalomfahrer dazu sagen, dass sein Körper in diesem oder jenem Augenblick einen bestimmten Winkel einnimmt, während gleichzeitig unversehens der Fuss sich biegt?... Was könnte ein Hund dazu sagen, dass aus einer seiner Drüsen eine Flüssigkeit tropft und dass man dies den «bedingten Reflex» genannt hat? Ein Denkmal für den Pawlowschen Hund ist ebenso natürlich wie die Denkmäler für Dichter. Denn diese haben den gleichen Reflex und die gleiche «Speichelausscheidung», nur dass man hier von «Gedichten» spricht.
Mag sein, dass Tiere sogar grosse Dichter sind, da sie ja ausschliesslich in Bildern denken, freilich ohne dies in einer Sprache ausdrücken zu können. Nun will ich aber - von der Selbstanalyse ermüdet - nicht auch noch zu sagen versuchen, was primär und was sekundär ist. Es ist wie bei
Brodskys siamesischen Zwillingen - «trinkt der eine, werden beide blau». Hinterher kommt stets der Katzenjammer, der in der Seele auch nicht begangene Sünden aufleben lässt.
«Was» und «wie» - das ist wie bei den Schulaufgaben vom Wasserbecken mit den zwei Rohren, welche an meiner Stelle immer mein Vater gelöst hat und deren Beantwortung ich definitiv vergessen habe.


Anmerkungen des Übersetzers:
1 Wassilij Rosanow (1856-1919, russischer Schriftsteller, Philosoph und Publizist, wurde zu seinen Lebzeiten wegen der argumentativen und ideologischen Widersprüchlichkeit seiner Schriften weithin kritisiert.
2 Pawel Florenskij (1882-1937), russischer Philosoph, Theologe und Naturforscher; in deutscher Sprache liegt u.a. das Lesebuch An den Wasserscheiden des Denkens (Berlin 1991) vor.
3 Sergej Jessenin (1895-1925), russischer Dichter, war vorübergehend mit der amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan verheiratet, starb durch Selbstmord.
4 Isadora Duncan (1878-1927), lebte als Frau von Jessenin während längerer Zeit in Russland; starb bei einem Autounfall, als sich ihre Schärpe in einem der Räder verwickelte und sie erdrosselte.
5 Boris Pasternak (1890-1960), russischer Dichter, Erzähler, Übersetzer; das grosse Gedicht Marburg liegt in zwei Fassungen vor. 6 Marina Zwetajewa (1892-1941), russische Dichterin und Essayistin; die zitierten Zeilen finden sich in einem Widmungsgedicht, das die Autorin an Aleksandr Blok (1880-1921) gerichtet hat.


Ilya Kutik in ZdZ 7/8



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