Gerhard Bolaender

Gedichte




Die Versuchung

Ich sehe nachts die Schrift. Ein roter Mensch
auf seinem Weg: wohin. Über dem Tal rundet
sich dieses Wort. Ich lese: Pracht

Die Lichtbrechung der äußeren Pupillen
warnt. Ein weißer Dampfer trägt dem Tal
die neuen Seuchen an

Hart abgemischt, ganz ohne fremde Zungen
verkehrt sich dieser Namensaugenblick: Als wäre
ich. Stumm sind noch diese Signaturen



Immer zu sagen, Rosenkranz

Der Nebenkaiser spricht. Es lebe Gott
der Geist. Im Vorderflur kehrt Friede
die Madonnen. Die sanfte Nahrung
mischt die Landschaft auf

Blank wandert frisch der Atem über
die harten, schönen Waren. Der Gipfel sieht
die Brücken in die Fallen stürzen. Es war,
es ist die höchste Zeit



Zwischenruf

Es ist das Wort. Nicht dieses Kiemen
Stück. Das Aufspringen der Angst, ohne Gefahr:
Der Zweifel ist verflogen. Dem Wahn pilgert
ein Dorngestrüpp auf der belegten Zunge

Ein Lob der Technik, jenem Schlaf. Einziger
Zeuge: Ich bin in diesem Augenblick verpackt
ins äußerste Geheimnis. Wie in ein Bettel
Gebirge fällt aller Notstandsschnee



Der Ort des Gedichts

Es ließe sich die Sprache
ja in Stücke zählen. Endlose Quader
schritt ich entlang. Ein Fremder winkte
seinen Namen in die Luft

Die Straßen raunten. In meiner Zeit
wählte die Freiheit einen Kaliban.
Ein großer Sänger nahm die Luft
zurück. Und ruhte auf dem Stein

Es deckte sich das Wunderleben mit der Musik:
Als probten heimlich verletzbare Stimmen. Ich
bin auf diesen Augenblick gefasst. Die Worte
grüßen aus ihrem gelben Stein



Sage ich

Mein Leben als Versuch: Vollkommener Augenblick.
Seit dieser Zeit (Lehrkasten Fremdversuch: Geschichte)
weiß mir die Haut ein besseres Gefühl

So als gingen. So als zögerten. So als
ritzten neue Wörter über das Fleischkostüm. Als
Wegelagerer. Ich zeige mit der Linken

Noch den Weg. Schon wandern Helfer
mir über die Zunge. Brüll ich los: Jetzt
aber. Peinliches Katastrophenfeld. Zwei Tote



Es löst sich auf

Im Meer außer der Welt nichts aufgefunden.
Leere Versprechung. Algenstraße. Schleim

Du glaubst, ich weiß: Wir bleiben
auf einer engeren Kometenbahn

Im Augenblick verwandelt sich
das Element. Ein Meer aus Salz

Der Handarbeiter grüßt die Sonne.
Und wälzt den weißen Schnee



Das Spiegelhaus

Die Straße blaß. In allen Häusern Not
Geschrei. Das Kabel ist dem Fernseher
entrissen. Testbild jetzt: Ich und du

Medium Weiss. Philosophie des Körpers: Eins
von allen wirklich wichtigen Inventaren. Spät
half sich wieder auf die Dritte Stimme. Anknipsen

Des kleinen Mondes. Der Horizont
aus Bakelit. Wer sagt was, mir. Ich will
gar nichts erkennen. Auf allen Straßen

Pflüger Helfer für den letzten Sinn. Als ob
die Menschen glücklich schauten auf den Nachtwandel.
Mirakel. Ich hörte nur kurz über die Schulter zurück



Das Versprechen

Um sieben Ecken Ohrensausen. Die Wahrheit
hört hier auf. Wer sich entscheidet, scheidet aus

Sag ich Papier, weiss nur das Blei im leeren Zimmer
weiter. Hielt ich das Sausen aus, wird alles wahr



Von Boten und Wegen

Über der Feuerstelle Licht. Schädel
trage ich in mir. Beim Blick aufs Meer
kehren da plötzlich die Namen ins Gedicht

Zurück. Meerschaum. Veralgtes Polaroid.
Am Rand des Beckens winkt eine Gestalt
mit ihrem Bild. So langsam

Verloren. Gegangen Schritt für Schritt.
Dem Winken aus der Ebene entgegen. Kaum
daß ich weiß. Wer da



Die Strassen springen ab

Erwünschtes Rabenstück: In einer Kammer
über den Sims den Körper lehnen um Ausblick
zu versuchen. Ich habe keine Angst

Das Fallen selbst. Das Dunkel zieht
den Körper an. Ich nehme jetzt die Luft
über die Zunge. Abprallversuch im Wortabgrund

Im Wiederkehren Welt, das Lispelhaus. Zur Nacht
vom Trost das Beste: Einen festen Schlag
damit das Auge aufspringt aus dem Schlaf



Genesis

Mit einem Osterlamm fing alles an. Wiesengrund,
philosophisches Naturabteil. Die Arme über
den Kopf und jetzt zur Seite: Raum

Und Schönheit. Wissen. Wiesen. Man ahnt
es wenn man zerbröckelt. Ganz ich und Stück
für Stück: Selbst irrend noch immer von

Traum zu Traum



Der ferne Klang

Das Muster ist verflogen. Es wandern
vier Propheten im Kamin. Nachts
zählt der Handschuh die Gefangenen
ins Glück. Und sie verschwinden wie
die Schwalben im zugespiegelten Licht

Ruft einer: Jetzt! Doch gibt es
niemanden, der ihn versteht. Dreht sich
der rote Abend, knattern die Vorsätze
ins Nachtgebet. Es wandert ein Gefäß
des Sammlers: Schädelbasis, blaue Scherben



Vagabunden

Die Stimme hebt uns aus der Nacht. Im Vestibül
ackert der Ritter der unteren Treppe. Die Ziegel
klappern Furchen in die Schläfen. Es gibt kein Denken,
keine Dialekte mehr

Unter dem Fahrtwind blüht die Angst. Der Bettler
liest mir einen Zwanzigmarkschein aus der Hand. Nach uns
die Zugluft. Spät in der Nacht sitzen drei Helden
im Garten bei Prag



(Erstveröffentlichung in ZdZ Heft 2, Mai 1993)
Gerhard Bolaender: Zeichen und Wunder
Gerhard Bolaenders Bio- und Bibliographie