Raoul Schrott

Ein bretonischer Dichter: Koulizh Kedez




Eingeleitet und übersetzt von Raoul Schrott

Was für die Okzitanen schon schwer fiel, war, was die Bretonen betraf, ungleich schwieriger: zweisprachiger Ausgaben von Gedichtbänden habhaft zu werden, um eine Vorauswahl zu treffen; dann die Dichter selbst anzuschreiben, von denen die Hälfte nicht antwortete - und schließlich August. Dichter in Ferien. Hotel mit Halbpension. Jedenfalls war die Hälfte der Hälfte bereits abgereist. Ein erster Angelpunkt war die Übersetzerin Francoise Morvan, mit ihrem Dossier bretonischer Lyrik, das sie für eine Anthologie zusammengestellt hat, die kaum Chancen hat zu erscheinen.

Morvan: Die geschriebene bretonische Poesie nimmt ihren Anfang mit dem Barzaz breiz, der großen Sammlung von 1837, die den Franzosen nahe gebracht hat, daß es einen reichen Schatz an Volksliedern, an Poesie des Volkes gibt. George Sand hat gesagt, daß es das schönste Buch ist, das sie je gelesen hat. Die Sammlung stammt von La Villemarqué. Die Sprache selbst wurde von diesem Buch sozusagen fixiert, und die Lieder der Sammlung selbst wurden zwar romantisiert und umgearbeitet, aber man singt sie heute noch, so groß ist die literarische Qualität der Lieder - und man singt sie, gerade wegen ihrer literarischen Ausformung, welche die Grundlage zur Weiterentwicklung der geschriebenen Poesie war.
Das erste Lied des Barzaz breiz ist ein Lied, das für La Villemarqué ein ganz rätselhaftes, mythisches war, das auf die Urzeiten der Kelten zurückging. Für Luzel war es ein mnemotechnisches Lied, ein Lied, wie man sich an Dinge erinnert. Jetzt hat man gezeigt, daß es ein Lied ist über den Klang der Worte, ihre Assonanzen, ein Wortspiel über die Silbe «au» zum Beispiel, oder bei der Triade von 3 über den Klang «i» - also ein System, sich die Zahlen zu merken und die Dinge - das Lied hat wirklich den Effekt einer Trance, man ist wie hypnotisiert, unter Drogen, weil es sich nach und nach im Rhythmus steigert. Dieses Lied ist eines der seltsamsten und wahrscheinlich ältesten der bretonischen Poesie - ein Zwiegespräch zwischen einem Druiden und einem Kind, das Kind fragt, der Druide antwortet, eine Rekapitulation in zwölf Fragen und Antworten der Doktrine der Druiden über das Schicksal, die Kosmogonie, die Geographie, die Chronologie, die Astronomie, die Magie, die Medizin, die Seelenwanderung. Es ist wirklich außergewöhnlich, daß die Mütter dieses Lied immer noch ihren Kindern beibringen, obwohl der Sinn längst verloren gegangen ist...

sing mir die reihe der 1, bis ich sie auswendig weiß / die 1 gibts nur allein: die einzige not, der tod, der schmerzen brot; / nichts davor, nichts mehr.
sing mir die reihe der 2, bis ich sie auswendig weiß / 2 ochsen vor ein ei gespannt; sie ziehen, bis sie dran krepieren; / und die 1 gibts nur allein: die einzige not, der tod, des schmerzes brot; / nichts davor, nichts mehr.
sing mir die reihe der 3, bis ich sie auswendig weiß / die welt ist in 3 geteilt: 3 anfänge und 3 abgesänge, für den menschen wie die eiche. / merlins drei reiche, voll goldener sachen, voll kindern die lachen, blumen, welche die sonne machen. / 2 ochsen vor ein ei gespannt; sie ziehen, bis sie dran krepieren. / und die 1 gibts nur allein: die einzige not, der tod, des schmerzes brot; / nichts davor, nichts mehr.
sing mir die reihe der 4, bis ich sie auswendig weiß / 4 steine zum schleifen, steine für merlins reifen, steine zum heldenschwerter schleifen. / die welt ist in 3 geteilt: 3 anfänge und 3 abgesänge, für den menschen wie die eiche. merlins drei reiche, voll goldener sachen, voll kindern die lachen, blumen, welche die sonne machen. / 2 ochsen vor ein ei gespannt; sie ziehen, bis sie dran krepieren. / und die 1 gibts nur allein: die einzige not, der tod, des schmerzes brot; / nichts davor, nichts mehr.
sing mir die reihe der 5, daß ich sie auswendig weiß / 5 zonen in der zeit, 5 länder weit und breit, 5 felsen über deiner schwester daumenbreit. / 4 steine zum schleifen, steine für merlins reifen, steine zum heldenschwerter schleifen. / die welt ist in 3 geteilt: 3 anfänge und 3 abgesänge, für den menschen wie die eiche. / merlins drei reiche, voll goldener sachen, voll kindern die lachen, blumen, welche die sonne machen. / 2 ochsen vor ein ei gespannt; sie ziehen, bis sie dran krepieren. / und die 1 gibts nur allein: die einzige not, der tod, des schmerzes brot; / nichts davor, nichts mehr.

Die Tradition der bretonischen Literatur verlief in eigenartigen Kreisen. Als die Angeln, Juten und Sachsen in England einfallen, ziehen sich die Kelten nach Wales und Cornwall zurück und wandern dann im 6. Jahrhundert in die Bretagne aus, wo sie ihre Mythen und Sagen mitbringen, die «matière de la bretagne», wie es dann an den französischen Höfen heißt, wo man die Sagen des Mabinogions übernimmt und ins Höfische umformt - bis man die Geschichten um König Artus 1066 wieder zurück nach England bringt und sie sich auch nach Deutschland ausbreiten: keltische Stammesgeschichten in vollkommen verändeter Form, der Beginn der höfischen Epik bei uns, wie die Okzitanen der Beginn des Minnesangs waren. Man erkennt es noch an den Namen: Iwein, Gawain, Kay, Mordred, Lancelot...
Aber die orale Tradition hat auch hier wieder nur als Steinbruch für Material gedient; aufgezeichnet wird in der Bretagne selbst kaum Nennenswertes an Literatur - zu einer Hochblüte wie in der irischen Dichtung des 8. und 9. Jahrhunderts kommt es nicht. Erst 1839 erschien das barzaz breiz, die Sammlung bretonischer Volkslieder von La Villemarqué, die das Repertoire der Volkspoesie aufzeichnet, mit dem selben Impetus des Romantischen, der auch Herder schon ausgezeichnet hatte. Eine deutsche Übersetzung erschien übrigens bereits zwei Jahre später von Keller und von Seckendorf, 25 Jahre später eine englische Übersetzung. Beide machen jedoch aus diesem Inventar die Poesie eines Kunstliedes, gestelzt übersetzt nach dem, was man unter «anakreontisch» verstand.
Dem Gedicht zum Zeilensprung verhalf dann erst - ähnlich wie Max Rougette im okzitanischen Raum - Roparz Hemon in den 30er Jahren, mit der Zeitschrift, die er herausgab. Der letzte wichtige Anstoß aber kam erst kürzlich und durch eine ganz andere Konstellation:

Morvan: André Markowicz, der aus dem Russischen übersetzt, und ich - ich übersetze aus dem Englischen - haben uns dafür eingesetzt, daß die jungen bretonischen Schriftsteller die russischen kennenlernen. So sind wir auf die Idee gekommen, in Rennes russische Dichter wie Ajgi einzuladen. Ajgi ist ein Dichter der tschuwaschischen Minderheit, schreibt aber auf Russisch und zählt sicher zu den wichtigsten Dichtern Russlands. Ajgi hörte die bretonischen Klagelieder, die Kemener singt - und hatte sofort Lust, diese ins Russische zu übersetzen. Sie sind jetzt bei den Tschuwaschen Volkslieder geworden, weil es bis dato kein religiöses Vokabular bei den Tschuwaschen gegeben hat. Wieso ihn also nicht kommen lassen für einen Monat, daß er hier leben kann und der bretonischen Dichtung einen neuen Horizont eröffnet. Das war 1992 in Rennes. Man hat sich gut verstanden, besonders er und Koulizh Kedez. Uns beeinflußt eigentlich kaum die französische Lyrik, sondern eher Paul Celan, der dem Bretonischen viel näher ist. So haben sich Koulizh Kedez und Ajgi getroffen - weil sie dasselbe Gedicht von Celan übersetzt hatten. Beide Dichter fanden sich in der Sprache Paul Celans wieder, und beide haben der Niemandsrose eine Hommage geschrieben und damit eine Affinität bewiesen, die über die Semantik der Dichtung hinaus in ihrem Klang und ihrem Rhythmus liegt.

Koulizh Kedez wohnt in der Nähe von Huelgoat, mit seinen Steinformationen, König Arthurs Grab, ein Chaos aus Granit und Gneis - und ein Trampelpfad für Touristen. Er schreibt bewußt in der Sprache seines Vaters, der ein Bauer ist - er selbst ist ein Schafzüchter. Er schreibt, weil er in der bretonischen Sprache etwas vollkommen Neues sieht, weil es keine schriftliche Literaturtradition gibt, und so hat er sich eine eigene Sprache konstruiert, aus den Worten seines Vaters, des Mittelalters, in allen Dialekten sucht er sich die Worte zusammen, die am expressivsten sind - und das Gedicht besteht dann auch darin, diese Worte vorzustellen und auszuloten. Er benützt das Bretonische nicht als fixierte akademische Sprache, sondern als neues, freies Material, das adaptierbar ist. Unser Gespräch ufert aus, rund um die Gedichte, ihre Wortlisten, die er für jede Zeile erstellt: ein Wort aus dem Dialekt von dort, eines aus dem bretonischen Slang, eines aus dem Mittelalter, eines das nur ein bestimmter Dichter drei Mal gebraucht: eine Probebohrung durch die Sprache ist jedes Gedicht, und die Sprache selbst eine koiné, eine Kunstsprache, wie sie am Anfang jeder schriftlichen Kultur steht. Am Leben erhielt sie eine orale Tradition: wie er liest, die Gedichte singt - jener alte, inzwischen verlorene Tonfall, den man aus den Aufnahmen von Yeats oder Pound noch kennt, wie ethnographische Fragmente, Relikte einer verlorenen Sprache des Gedichts.

Kedez: Ich habe immer das Tragische, das Generöse, eine Art Wahnsinn geliebt, was den Russen und uns eigen ist. Und lesen heißt für einen Dichter: übersetzen -
Wie es bei den Eskimos 25 verschiedene Wörter für den Schnee gibt, so haben wir viele Ausdrücke für den Nebel, die Angst, das Sterben. Die Bretagne, das Land hier, hat seine eigene Semantik: das alte Armorika, das Land vor dem Meer, wie es vor den Römern hieß, geht in seiner Etymologie auf das Meer und den Tod zurück; und das Adjektiv dazu, «glas», kann alle Farben zwischen braun, blau und grün abdecken und auftragen: die Farbe des Himmels ist die Farbe der Erde und die Farbe des Meeres.
Was die Gedichte transportieren, das ist ein Reim, eine Energie zuerst und vor allem: eine Transzendenz, einen Atem: ein Gott, der auf der Flucht ist und der sein möchte - das ist der Mystizismus Celans und der Schamanismus Ajgis. Man geht von den essentiellen Worten aus, die aus der Natur kommen - aber die durch die ganze europäische Kultur gehen, die ganze Metaphysik. Der Ausgangspunkt eines Gedichts aber ist gegeben, die Inspiration: ein Reim, ein Bild - ein eigenartiges Wort, wegen seinen Konsonanten, seinen Ambiguitäten: wie ein Licht im Dunkel, etwas Lunares...
Die Sprache, die ich in meinen Gedichten verwende, ist eine eklektische koiné: gesammelt, 5000 Seiten Notizen über die Sprache meines Vaters, wie er sie spricht bei der Arbeit, Konstruktionen, Worte, die manchmal 1000 Jahre alt sind: eklektisch - in der Diachronie und Synchronie der Sprache; lesbar, wenn man die Sprache lernt - wie man eben Joyce verstehen muß: schwierig, nicht naiv. Eine Frage des Repertoires der Dialekte und ihrer Register. Jemand, der Bretonisch in der Schule lernt, tut sich schwer damit - er spricht mit einem schlechten Akzent, hat kaum einen Wortschatz... aber ohne diese koiné existiert die Sprache nicht.

Die deutsche Übersetzung seiner Gedichte kann deshalb kaum mehr als ein Notat sein; um sie kongenial zu übertragen, dazu bräuchte es nicht nur den Wortschatz des ganzen Grimmschen Wörterbuches. Und so erstellt er mir auch Listen mit Anmerkungen zu den Gedichten, wie zum Beispiel für den Rochen:

- rödad: ein Netz voll Rochen, mit Goldstreifen versehen
- war voeunégez: ein Wort aus dem Vanetaiser Dialekt, das Calloch verwendet hat, ein Dichter der Jahrhundertwende - das Dunkel
- an den beunég: ein finsterer, dunkler Mann ( bezieht sich aber nicht auf eine Sache; hier, ja - von dort her, Personifikation der Bäume)
- ar gwézegí: Ort, wo es Bäume gibt demer «ar strad demér»: die dunkle Straße; eine Straße in Quimper, wie sie im 15. Jahrhundert hieß
- akr: gleicher Ursprung wie sakr (sacrus), zur Zeit der Britonen übernommen, 4./5. Jahrhundert - hakr: schmutzig, unrein, häßlich, fürchterlich


rochen

rochen im bauch des netzes
die schatten krochen über meine stapfen
ich zwang sie unter mein joch ich zog sie hinter mir her
durch das gestrüpp und gehölz
ich schleppte meine wut unter die stämme meinen zorn zwischen die strünke
in die schlammigen tiefen des lebens
ich torkelte taumelte und der dieb der nacht mit dem hellen haar sengte mir die stirn
innen das herz wie eine zur faust geballte hand
die wangen hohl vor dem blut eines tages
ein herz von rotem mond trunken vor dem elektrischen schlag der worte
was mich streifte zerschlug ich was ich spürte war
dunkel dunkel was ich verstand schwarz was ich sah
ich torkelte taumelte der finger brannte vor den engeln im nacken
ich trieb kieloben es flackerte vor meinen augen
im toten treiben des laubs meiner wirren gier
splinte und splitter aus der rinde des hirns
ihr bauch im nachtgehölz wo die hunde lachen und die teufel
ich taumelte torkelte fluchend schaum vorm mund
rochen im bauch des netzes
die schatten krochen über meine stapfen
ich zwang sie unter mein joch
rochen ich unter all den rochen


rae

rouedad raeed
an noz a stlejen war va lerc'h
war veunegezh ar gwezegi demer
etre treujennoù va buanegezh ha kefiennoù va c'hounnar
e deun an hakr a voud
endra gerzhen o vadaouin- e roste va zal gouïlh e vlev aour
ennon va c'halon par d'ur meilh-dorn
o lopata ouzh dremn distronk an deiz o wadan
va c'halon loarenn diharak o vrifal ha pozioù ha porzhiadoù
poanius oa va from doanius oa va zrid
du oa va merzh du oa va meiz
endra gerzhen o vadaouin biz devus an ael ouzh va ilpenn
a-ere poell ar barr follezh ec'h hersen an ifern
e-touez delioù marv va iunelloù aner
ha skolpennoù frink va froudennoù euver
er c'hoajeier bojennek e vourr en o don ar c'hon yen hag an diaoulien
endra gerzhen o vallozhin an eon ouzh va min
rouedad raeed
an noz a stlejen e-barzh va lerc'h
me rae e-touez ar raeed

(Koulizh Kedez in ZdZ 7/8)