Raoul Schrott

Ein okzitanischer Dichter: Felip Gardy




Eingeleitet und übersetzt von Raoul Schrott

Was für alle kleinen Sprachen gilt: In keiner Buchhandlung, in keinem Verzeichnis ist etwas zu finden, und dort versucht man es zuerst. Dann über das Minderheitenbüro des Europarats, das mir den Text der Charta schickt. In der Unesco verweist man mich auf den Index translationum der Nationalbibliothek: aber da ist wenig und nicht kenntlich, um was es sich handelt. Die Scottish Poetry Library in Edinburgh, die sonst über alle möglichen Adressen verfügt, kann mir auch nicht weiterhelfen und verweist mich auf das Mercator-Projekt in Belgien oder Holland, das sich um das Didaktische der kleinen Sprachen kümmert. Das Magazine littéraire verweist mich auf das Maison de la poésie in Paris. Die haben auch noch nie von den okzitanischen, bretonischen, baskischen und korsischen Dichtern gehört, aber wenigstens eine andere Adresse: das Centre regional des lettres in Montpellier, das mir endlich Namen sagen kann und die Adressen eines weiteren centres in der Bretagne, eines baskischen Kulturinstituts, einer Bibliothek in Korsika vermittelt. Und dann Briefe und wieder Briefe, von einer Referenz zur anderen, ein halbes Jahr lang: um Bücher zu erhalten, zweisprachige Ausgaben, wenn möglich, und Namen, Adressen. Und dann die Telefonate, eins nach dem anderen, immer mit einem gewissen Mißtrauen in der Leitung.
Für die okzitanische Literatur war Felip Gardy die erste Referenz, seine Gedichtbände und ein hilfreicher Überblick über die okzitanische Literatur der Gegenwart, die Archipele der Schrift. Wir treffen uns in einem Hotel in Montpellier; das Zimmermädchen unterbricht das Gespräch dauernd. Er ist an die 40, mager und gebeugt, von zuvorkommender Höflichkeit, Professor für okzitanische Sprache im Cnrs in Montpellier und Bordeaux; er teilt sich die Zeit sozusagen zwischen Atlantik und Mittelmeer.

Gardy: Es gibt - trotzdem der Barock etwas Wuchtiges, Verzerrtes ist, das man sich hier in der Helle des Lichts und den weiten Ebenen schwer vorstellen kann - es gibt hier das Barocke, das verinnerlicht ist im Kopf. Die Leute hier haben Angst vor dem Licht, vor dem Draußen; innen sind sie zerquälter - Mistral, Max Rouquette sind die Dichter des Dunkels, der Schatten. Das Mediterrane, anders als man glauben mag, ist sehr geprägt von der Nacht. Der Eindruck des Lichts ist so blendend, daß es Nacht wird. Es hat auch mit dem Katholischen zu tun, dessen Gewicht hier sehr spürbar ist.
Die okzitanischen Dichter sind eigentlich keine Volksdichter in dem Sinne, daß sie ihr Material aus anderen Kanälen als denjenigen der Literatur beziehen; sie sind alle gebildet, in der französischen, in der okzitanischen Kultur, aber auch in anderen. Max Rouquette zum Beispiel, der kein Literat im üblichen Sinne ist; er ist Mediziner, mit einem großen Wissen über Musik, aber auch der Literatur des Ostens, der Lateinamerikanischen. Die Dichter hier sind keine französischen Intellektuellen, im klassischen, traditionellen Sinn. Sie sind eigentlich Aussenseiter. Natürlich kennen sie die französische Dichtung, aber die andern Einflüsse sind genauso wichtig: das okzitanische Mittelalter, die Troubadours, der weniger bekannte okzitanische Barock, aber auch die orale Tradition, die Volksdichtung, die Märchen, die Lieder, die man auf dem Land singt.
Die barocke okzitanische Literatur des 16. Jahrhunderts - die der italienischen, spanischen, französischen sehr ähnelt - ist sicher als Einfluß wichtiger für die Dichter unseres Jahrhunderts, als die Troubadours oder Mistral. Das hängt auch damit zusammen, daß man sie erst vor zwanzig Jahren wiederentdeckt hat, weil sie in Vergessenheit geraten war.
Max Rouquette hat um 1930 die okzitanische Prosa und Poesie erneuert, mit einer neuen Art zu sehen, die Sprache zu sehen. Ich hab ihn gelesen als ich 13, 14 war, er hat mich sehr beeinflußt, und ich lese ihn immer wieder.
Was ihn auszeichnet ist die große Reinheit der Sprache, eine extreme Strenge und gleichzeitig eine große Bescheidenheit; seine Gedichte sehen sehr einfach aus, aber sie sind wieder und wieder überarbeitet - um sich sehr natürlich zu geben.
Frédéric Mistral, obwohl er anfangs des Jahrhunderts den Nobelpreis erhielt, ist eigentlich bedeutungslos geworden. Er ist ein sehr komplexer Dichter. Sein großes Verdienst war, daß er die Möglichkeiten des Okzitanischen voll ausgeschöpft hat: ein großer Maler und Musiker, der seine Phantasmen gut zu orchestrieren wußte. Zu seiner Zeit war er seiner Epoche zugleich voraus und blieb doch hinter ihr zurück, hinter der Poesie des 19. Jahrhunderts, weil er sich auf weiter Zurückliegendes beruft als die Dichter seiner Zeit. Ein bißchen provinziell also - aber gleichzeitig weit voraus. Ich habe lange gebraucht, um ihn lesen zu können - aus dem Vorurteil heraus, er wäre reaktionär, ein Bauerndichter, ein Reimschmid, ein bißchen künstlich. Heute dagegen erscheint er mir als außerordentlich guter Dichter. Zudem hat er das Felibrige gegründet, zur Verteidigung der provenzalischen Sprache, 1850-60, ohne eigentlich jemals die Situation der Sprache richtig verändern zu können.
Ich stelle mir die Frage nach der Zukunft der okzitanischen Sprache oft und eigentlich doch nie. Um Montpellier gibt es etwa eine Million Leute, die sie mehr oder weniger täglich sprechen, aber es sind eher die Alten, nicht in den Städten, sondern am Rande. Aber ich bin weder Optimist noch Pessimist. Sprachen werden gesprochen, etwas weniger, kaum, wieder oder gar nicht mehr.
Das Okzitanische kann auf eine orale Literatur zurückblicken. Das Französische dagegen hat die größten Schwierigkeiten, das Orale zu integrieren - oder man sucht es auf den Antillen oder versucht, das Kreolische in die Sprache einzubinden, um sie wiederzubeleben. Aber das ist nicht leicht, die Franzosen mögen das eigentlich nicht, sie haben Angst, die Sprache zu ruinieren. Das Okzitanische dagegen ist flexibler. Sieht man sich die Lyriker der Gegenwart an, ist man erstaunt von der Vielfalt der Welten, die sie sich mit dem Material der Sprache konstruiert haben. Die französischen Lyriker gleichen einander, sie sind fast identisch.
Ich schreibe in meinem Kopf, mit Worten, die umeinander kreisen, sich drehen, und die ich dann abschreibe. Ich schreibe sehr schnell; es wächst heran, und dann schreibe ich es. Es wird weniger vom Intellekt bestimmt, als von einer Atmosphäre, einer Abdrift dem Klang nach. Der Reim interessiert mich sehr bei den anderen; bei mir nicht. Ich feile an meinen Gedichten nicht; sie liegen lange in meinem Kopf und verändern sich, aber einmal niedergeschrieben, verändere ich sie nicht mehr. Manchmal braucht es einen Monat für ein Gedicht von drei Zeilen. Ein Gedicht ist zuerst eine Landschaft oder ein Eindruck, aber bis es ein Gedicht wird, braucht es sehr viel Zeit. Auch die Reihenfolge der Texte bleibt. Das Gedicht bleibt in sich. Wenn ich das Gedicht wiederlese, begegnet es mir, aber es bleibt außerhalb. Es ist wie eine Uhr, die man aufziehen kann, damit sie wieder geht. Es ist, als ob es nicht von mir wäre; es gehört mir nicht.
Was einzelne Worte aus «Tänze des Tintenfischs» betrifft:

- lo drac: es gibt hier den Aberglauben, daß wenn der Wind die Fenster und Türen zuschlägt, daß er ein lebendiges, mythisches Wesen ist - der Drache.
- clapàs: die Leute hier in Montpellier nennen so einen «Haufen Stein», die Steinhaufen auf der Heide, die Steine, die man an den Rand des Feldes baut, um es zu bebauen.
- buòu de Mese: die Kuh aus Meze, eine kleine Stadt, 20 Kilometer von Montpellier, wo es vorwiegend Fischer gibt. Dort trägt man einmal im Jahr, im Sommer, ein großes Monstrum aus Pappmaché und Stoff durch die Stadt, zwei drei Leute passen da hinein und vorne sind die Hörner - die Kuh von Meze.
- barlingau colau: colau ist ein okzitanischer Vorname; barlingau ist eine Halbberline, eine Lutschstange, ein Bonbon: colau lutscht also seine Stange: ein Kinderspruch eben.


Tänze des Tintenfischs (Auszüge)

gerade am wegkreuz von gewässern und geschichten
werden diese so streng nackten inseln in der kaverne
der dämmerung geboren: die träume von tinten fischen
tausende an hellen armen um sie einzufangen die nacht


die sonnen haben solange ihre saat der bienen gesät
daß der himmel von mühlrinnen und händen geordnet
nur mehr ein taufeld ist. blind erfinden wir schatten
die uns spotten menschengestalten vor hunger schwer


die schwalben getrieben in ihren grasfarbenen fontänen
finden im schlaf des sommers inseln um zu überwintern
grummet des süßklees und des farns - soviele tief gepflügte
falten der kälte unter dem schiff ein jeder kirche zur nacht


berge von austern und besen sind ein bestirnter park
voller durst orangen dem tau und den skorpionen
genug um die garbe der tausend wurzeln zu säen weiß
in der bauchmitte der hohn der melden und krebse


mitten im schlaf schließt die krabbe freundschaft
mit dem mond sie baut verrückt vor eigener geduld
mit schere und herz sich kleine sonnen aus glut
und zitronen ein verließ ohne schlüssel noch licht


der drache ist ein faulpelz: alle seine eier hat er verloren
jetzt kann der winter kommen mit seinen roten kuchen
die weinlese und die ein und dreissig tage sind vorbei
der koppelriemen des todes wird bald abgestaubt werden


holzbein! hüpf wie ein wiedehopf durch die vorhänge der nacht
krakenkopf! mit den großen siegeln von völkern im schatten ruft
die mutter der gänse ihre verbeulten jahreszeiten alle zusammen
vor der zeit essen wir die quittenmarmelade den gefrässigen tod


kola lutscht an seiner zuckerstange: er hat soviel hunger wie die kuh
von mèze oder der rabe des clapas. das mahl ist sicher symbolisch:
den arsch vom weißdorn nase vom apfelbaum. geschuppt bis auf
die gräten eine geräucherte sardine das glas wein und der aquamarin


der bär, regenbote des himmels schaut mit der nase aus dem laub
türen und fenster sind verriegelt und wir auf der reise des winters
durch die schweren wirbel des lichts. am gipfel der jahre dort
oben setzt sich der große bär bereits wieder seine totenmaske auf


das leben ist das geschälte holz der weisheit: schwarz
wurzel sonne ja in der tat ihre schönsten stoffe. wunder
an eleganz und liebe. ich bin die fiebrige krankheit der
überbordenden flüsse voll blauer sardinen und knochen


linkische gärten der verzweiflung: die erdäpfel und das kraut
bereiten ihr bankett des glücks. mit den mahl- und augenzähnen
werden wir zu zerkauten landschaften von lidern die wir nicht
besitzen morgen wird der tisch gedeckt: erdäpfel und kraut.


sie redet von honig mauleseln zecken die mutter stimme
und ihre worte reichen so hoch in die gähnenden räume
daß man sie kaum mehr versteht: ohne naht noch faden
reden und röcheln in einem sanft andauernden rauschen


in der widerspenstigen flucht der zeit - trick track du bist die kuh
ding dong und auch der dreck - knochen und fleisch der menschen
werden schnee und regensturm. krümel vom glück der musikanten
fallen durch die schale der nächte. wir siebenschläfer der ewigkeiten


kalt das wort und kalt die jahreszeit. vom a bis zum o des himmels
wird der schrei des kuckucks länger ein tadel der takt der leere
und da sind wir die zwiefachen schatten von krebs und krabbe
seltsame geschöpfe hungrig und ohne raum. und weiß die worte


Dançars dau pofre

Just a l'entremitan deis aigas e dei faulas
naissènças d'isclas rigorosament nusas.
Dis la caforna deis aubetas: sòmis de tautenas
milanta braç de clartat pèr embarrar la nuech.


Tant an semenat, lei soleus, son cargament d'abelhas,
que lo cèu, ordenat de besaus e de mans, es pas mai qu'un tenement d'aiganha.
D'ombras trufarèlas compausam, desuelhats,
lei semblanças umanas e son pes sorn de fams.


Butats d'irondas amb gisclars coloriats d'erbum
lei sòms d'estiu inventan seis isclas d'ivernatge.
Reprim d'esparcet e de feusas - tàntei nativitats
afondradas en naus supèrbas a la trampa dau freg.


Montanhas d'ùstrias e d'escobas fan parque estelat
amb set e susor d'iranges e d'escorpius
n'i a pron pèr faire grelhar l'èrba dei mila raiç,
en blanc mitan dau ventre, un grand cacalàs de bordoleiga e de chambres.


Au bòn de la dormida, nais l'amistat lunara de la favolha
amb pautas e mai còr, bastìs, paciènta e bauja
de sa quita paciéncia, un solelhet de brasas doças
e de lemons, béla preson de rais sèns claus ni lums.


Lo drac es un fug-l'òbra: a perdut tótei seis uòus.
Ara pòt bèn venir l'ivèrn, amb sei crostadas rossas.
Passadas son vendèmias e mai lei trenta-un jorns:
faudra lèu espoussar lei fardas de la mort.


Camba de bòi! fai la puput en barrant cortina a la nuech.
Morre de sépia! a ferratats de pibolas solombrosas
maire deis aucas recampa lei quatre sasons bidorsadas.
Abans ora, manjam, galavards, marmelada de codonhs amb peçucs de mòrt golaudassa.


Barlingau manja Colau: d'apètit tant n'a coma lo buòu de Mèsa
ò dau Clapàs lo cropatàs. La mangiscla es sai que simbolica:
cuòu de pometa e nas de pomiera. Fins au rastèu t'an curat
l'arencada, amb un flòc bèu de vin e tres còps mai de jauverdassa chucosa.


Messatgiera deis aigas celestialas, l'orsa naseja entre lei fuelhas.
Pòrtas e fenèstras barradas a clau, fasèm viatge d'ivèrn
en revolums pesucs de clartats. A la cima deis ans,
maire sobeirana, l'orsa a cargat sei masquetas de mòrta.


La vida es pelaudon de saviesa: bèu soleu barbaboc
ne'n fai seisa estòfas mai finas. Prodigi d'elegància
e d'amor. Siáu malautiá fervorosa a la flor
dei flumes naut cargats de sardas blavas e d'ossamentas.


Ortets maubiaissuts de la desesperança: patanas e caulets-flòris
enzengan manjadas de felicitat. D'amb caissaus e dènts de l'uelh
venèm païsatges remastegats en parpèlas d'inexisténcia.
Deman la taula serà mesa: patanas e mai caulets-flòris.


Parla de mèu, de muòus e de langasta, la votz mairala,
e sa paraula tan naut camina dins leis espacis badiers
que s'ausís pas pus gaire: parlar sèns fiu ni corduras,
coma d'un raufèu sèns espèr la brusor contunhosa e suava.


A l'enfugir repotegaire dei tèmps - trica-traca siás la vaca
dringa-dranga e mai la fanga - l'òssa e lei carns deis òmes
vènon nèus e cisampa. Brigalhas musicianas de bonaürs traucan ja
la pelòfia dei nuechs. Mai siám 'ncar missaras pèr d'eternitats dormilhosas


Freg es lo dire, e freja la sason. De fons a cima de l'aire
s'esperlònga, blaime, lo cant dau cocut, mesura dau vuege.
Aicí siám, semblanças doblas dau chambre e dau cranquet,
lei bèstias estranhas d'una fam sènsa marge. E blanca la paraula.

Felip Gardy in ZdZ 7/8