Joachim Sartorius travail alimentaire John Ashbery im Gespräch mit Joachim Sartorius Wir haben uns in Johns Wohnung in Chelsea verabredet. Der doorman weiß Bescheid. Er muß schon unzählige Manuskripte, junge Poeten und Ashbery-Jünger in den 8. Stock gelotst haben. Während John für uns beide einen Martini dry mixt, schaue ich mir die Bilder von Jane Freilicher und Larry Rivers an den Wänden seiner lichten, auf Ordnung bedachten Wohnung an. Nur auf dem Tisch stapeln sich Bücher zu Türmen in prekärem Gleichgewicht. Mit einem gewissen Stolz zeigt mir John The Landscape Is Behind The Door, einen Gedichtband von Pierre Martory in der Übersetzung von John Ashbery, der gerade erschienen ist. Sartorius: Das ist ein guter Ausgangspunkt für unser Gespräch, denn ich würde gerne zunächst über das Übersetzen von Gedichten reden. Du hast ja Raymond Roussel übersetzt, einige Surrealisten und jetzt Pierre Martory. Mit Martory, der als junger Mann in München Gesang studiert hat, teilst Du die große Liebe zu den Liedern Franz Schuberts und zu den Opern Mozarts. Fällt der Musik, John, bei den Mühen des Übersetzens eine Rolle zu? Hat sie überhaupt eine Rolle? Ashbery: Daran habe ich bisher noch nie gedacht. Spontan fällt mir dazu nichts Intelligentes ein. Ich erinnere John daran, daß ich 1975 angefangen habe, seine Gedichte zu übersetzen, ihn damals zum ersten Mal besucht und ihm meine deutschen Fassungen vorgelesen hatte. Sartorius: Du machtest dann ein paar aufregende Bemerkungen. Ich bin fast versucht zu sagen, daß Du ganz gut Deutsch kannst. Auf jeden Fall kannst Du den Text aller von Schubert vertonter Lieder auswendig. Wenn ich Dir, bei meinen deutschen Fassungen, Alternativen anbot, dann sagtest Du: «Diese gefällt mir musikalisch am besten». Ashbery: Daran kann ich mich nicht erinnern. Sartorius: Im Journal von Gerald Manley Hopkins gibt es einen Satz, den ich besonders mag. Er lautet: «Eine Art Schönheit finden, tatsächlich ist das fast gleichbedeutend mit dem Finden einer Ordnung, überall.» Übersetzen, das ist für mich, neben vielen anderen Dingen, auch eine Art von Ordnung in deiner eigenen Sprache zu finden, in der Sprache des Übersetzers, also etwas, das der Partitur des Originals nahekommt. Wie bist du vorgegangen, als Du Pierre übersetzt hast? Ashbery: Ich glaube, ich habe einfach drauflosübersetzt. Manchmal lese ich längere Gedichte einmal ganz durch, aber das ist eher selten. Sartorius: Du übersetzt also einfach Zeile nach Zeile? Ashbery: Ja, und wenn ich fertig bin, dann lese ich meine Übersetzung öfters durch und mache immer eine ganze Menge Verbesserungen. John steht auf, geht in die Küche und mixt sich einen zweiten Martini dry. Es ist offenkundig, daß er dieses Gespräch als ein Interview auffaßt, und Interviews haßt er. Aber ich insistiere und komme noch einmal auf meine Idee von dieser musikalischen Komponente beim Übersetzen zurück. Ich frage ihn, ob Melodie, Tonart etc. nicht eine Rolle für ihn beim Übersetzen spielen. Ashbery: Es muß gut klingen, es muß sich gut anhören, aber was das mit Musik zu tun hat, weiß ich nicht. Ich bringe die Sprache auf Rezensionen seiner frühen Lyrik und zitiere Roger Shattuck, der geschrieben hat, daß Ashberys Lyrik ein Tanz mit sieben Schleiern sei, und - an anderer Stelle -, daß wir in dieser Lyrik eine Art Gedankenmusik hören können. Ich frage John, ob er dem zustimme. Ashbery: Ich hätte das selbst sagen können. Hat das wirklich Roger Shattuck von sich gegeben? Sartorius: Vielleicht hat er Dich, ohne das ganz deutlich zu machen, zitiert. Ashbery: Wie immer, jedenfalls war es keine sehr freundliche Besprechung. Shattuck verglich mich mit Oscar Wilde: Ich sei eine Sphinx ohne ein Geheimnis. Sartorius: Ich weiß nicht, warum ich so insistiere, daß die Übersetzung Deiner Gedichte auch einen musikalischen Aspekt hat. Vielleicht wurde ich von allen diesen Kritikern beeinflußt, die behaupteten, daß mehr noch als die Collage, die Assemblage und die Theorien zum zeitgenössischen Bild Dir die Musik wichtig sei. Und Du selbst hast ja in Interviews Luciano Berio und John Cage genannt, als Komponisten, die Dich beeinflußt haben. Ashbery: Es ist richtig, daß die Art und Weise, in der John Cage nach dem I Ging mit bestimmten Instrumenten komponierte, einen gewissen Einfluß auf mich gehabt hat, als ich jung war und das herauskriegte. Es ging mir damals mehr um das Ergebnis als um die Methode selbst. Ich wende keine dieser Praktiken wirklich an, wenn ich Gedichte schreibe. Vielleicht tat ich das einmal. Es muß schon lange her sein. Ich schrieb einige Lieder, die in einer Weise vom I Ging beeinflußt waren. Ich las dieses Buch, als mir John Cage davon erzählt hatte. Aber ich höre immer Musik beim Schreiben. Heute nachmittag zum Beispiel Musik von Franz Schmidt, einem Zeitgenossen von Schönberg, doch dessen genauer Gegenpol. Seine Musik ist sehr konservativ, spätromantisch, eine Art österreichischer Fauré. John mixt uns beiden noch einmal einen Drink. Er sieht nicht sehr glücklich drein. Ich wechsle das Thema. Sartorius: Poesie wird oft als Wahrnehmungs- und Erinnerungsanstrengung definiert. Nun bedeutet Erinnern nicht nur, das eigene Leben, die eigenen Erfahrungen und die Einflüsse auf deine persönliche Geschichte zu erinnern. Es geht dabei auch um das Heraufholen der Schichten früherer Kulturen, früherer Poesie und so fort in Deinen Kopf. Die Erinnerung an die antike Welt zum Beispiel, auch wenn sie für die Selbstvergewisserung des ausgehenden 20. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle spielt, war wichtig in der Renaissance, in den Empfindungen des 18. Jahrhunderts und dann noch einmal zu Anfang unseres Jahrhunderts. Ashbery: Ja, da kommen mir Ezra Pound und auch Konstantin Kavafis in den Sinn, über den Du ja viele Gedichte geschrieben hast. Sartorius: Aber Alexandria ist nicht mehr, wie Rom, wie Pompeji, ein begehbares Gedächtnis, ein Ort von tausend Hinterlassenschaften. Alexandria ist ein Ort des Vergessens, des Verwischens, des Todes. Hast Du, John, denn so einen Ort, eine Art Gedenkstätte, in die Du eintreten und in der Du herumgehen kannst? Ashbery: Nein, ich glaube, ich habe keine. Vielleicht entstehen solche Orte, wenn ich schreibe, aber zu anderen Zeiten denke ich nicht an sie. Ich würde auch nicht sagen, daß Poesie für mich eine Anstrengung der Wahrnehmungskraft und des Gedächtnisses ist, denn wenn ich schreibe, trete ich sozusagen in einen Raum, wo es sehr leicht passieren kann, daß ich Dinge erinnere, an die ich über Jahre hinweg nicht gedacht habe. Oder vielleicht sie wahrnehme. Nie aber handelt es sich um eine Anstrengung. Die Anstrengung besteht nur darin, sich hinzusetzen und sich vorzustellen, wirklich etwas zu schreiben. Das ist mitunter eine ganz schön große Anstrengung. Wir lachen beide. Dann erzähle ich John von einigen deutschen Kritikern, die in seiner Poesie immer verzweifelt nach zentralen Bildern und Bezügen suchen, vor allem in seiner späteren Poesie. Sartorius: Sie meinen, daß Du als ein stevensian Poet begonnen hast. Stevens sah die Aufgabe des Dichters darin, auf die linguistischen und konzeptuellen Zerstörungen der Wirklichkeit mit einer poetischen Utopie zu reagieren. Dein Gedicht aber hat dieses Chaos in sich selbst hineingenommen und kämpft mit ihm. «System und Struktur» wurden ersetzt durch «Spiel und Zufall». Du hast eigentlich immer alles getan, um ein Thema oder Themen zu vermeiden. Aber hat sich das, wenn ich jetzt an Deine jüngste Lyrik denke, nicht in den letzten Jahren verändert? Ashbery: Vielleicht. In meinem vorletzten Gedichtband April Galleons habe ich mich zum Beispiel auf englisches Renaissance- und altenglisches Material gestützt. Ferrex and Porrex von Thomas Sackville und Thomas Norton kommt da zur Sprache. Und auch der Beowulf hier und da, und der Seafarer ist nicht weit. Ich wollte dieses Vorstellungsmaterial, also einen Horizont explorativer Ungewißheit, als Hintergrund heutiger Sprache einsetzen. Sartorius: Das ist großartig und sehr gelungen. Ich meinte, in einigen dieser Gedichte von Ferne auch Kolumbus zu entdecken. Du selbst hast schon früh die Textseite mit einer Wasseroberfläche in Beziehung gesetzt, den Akt des Schreibens mit der Vorstellung, einen Hafen zu verlassen, das Wort mit einem Boot verglichen. In dem Gedicht Fragment zum Beispiel, in Zweifacher Traum vom Frühling, gibt es die schöne Zeile: «Das Boot stand hieratisch still / auf der ungelesenen Seite des Wassers.» Auch Eine Welle, eines Deiner bedeutendsten langen Gedichte, ist für mich eine unerschöpfliche Metapher für Dein eigenes Schreiben. Der Text besteht aus zahlreichen Partikeln. Sie oszillieren und vereinen Bewegung mit Stillstand. Ist der Dichter also doch eine Art Seefahrer, ein Forscher, der seinen Ankerplatz aber nie verläßt? Ashbery: So ist es wohl. Vielleicht übertreibe ich es mit diesen besonderen Bildern. Und es stimmt, daß viele meiner Titel, sie zumindest, mit Wasser zu tun haben. Eines meiner früheren Gedichte hieß Clepsydra. Das ist eine Wasseruhr, die die Zeit mißt nach dem Fluß des Wassers. Diese Uhr wurde zu einer Art Cliché für Zeit und Dauer. Wie eine Uhr eben. Aber ich weiß nicht genau, warum ich dies tue. Ich wuchs nahe am Wasser auf. Vielleicht ist das eine Erklärung? Sartorius: Eine Erklärung dafür, daß Worte wie «Segel», wie «Entdeckung», wie «Maelstrom» sehr häufig in Deinen Gedichten zu finden sind. Für mich kommt das Ende eines Gedichts oft dem Ende einer Reise gleich. So heißt es in Deinem Gedicht Hotel Lautréamont: «Alle Schiffe / sind heimgekehrt.» Die Suche ist vorbei. Der Reisende in diesem Gedicht schaut auf seine Abenteuer auf den Meeren der häuslichen Liebe, mit Qual, Erschöpfung, tiefer Zuneigung und zu guter Letzt Reue zurück. Ashbery: Ja, vielleicht ist dieses Gedicht wirklich ein Klagelied, jener Klage verwandt, der Emerson in seinem Essay Experience Ausdruck gegeben hat: «Die Größe dessen, was wir fühlen, ist so viel weniger als die Größe unserer Verluste.» In diesem Kontext von Entdeckung und Erfahrung will ich noch einmal zu Wallace Stevens zurückkehren und frage John, ob er ihm auch heute noch etwas bedeute. Ashbery: Ich hatte Stevens lange Zeit nicht mehr gelesen. Als ich jung war, hatte er einen großen Einfluß auf mich. Wenn man jung ist, verschlingt man eine ganze Masse anderer Autoren. Dann, wenn man älter wird und selbst zu schreiben beginnt, ziehst Du Dich vom Strand zurück, und dann stehen sie alle da, auf dem Strand, diese freundlichen Leute, und winken Dir adieu. In meinem Fall weiß ich wirklich nicht, wohin die Fahrt, wenn ich zu schreiben beginne, geht. John setzt sein durchtriebenes Lächeln auf. Das weiß man nur beim Übersetzen, erwidere ich, und frage ihn, wie er seine in andere Sprachen übersetzte Gedichte sieht, wie er die französische Übersetzung seiner Lyrik beurteilt. Ashbery: Die bin ich ja mit Pierre sehr genau und sehr sorgfältig durchgegangen. Mit diesen Übersetzungen habe ich mich also angefreundet. Und bist denn Du mit den Übersetzungen Deiner Gedichte, die jetzt in Conjunctions und in Exact Change erschienen sind, einverstanden? Sartorius: Für mich sind es amerikanische Gedichte geworden. Das meine ich als Lob. Ich hatte auch ein Riesenglück mit meinen Übersetzern, Rosemarie Waldrop und Nathaniel Tarn. Bei Deinen Gedichten denke ich, daß ihr Hauptcharakterzug die Offenheit ist. Kritiker haben gesagt, es handele sich um linguistische Allzweckkonstrukte, die den Leser einladen, an ihrer Schaffung teilzunehmen. Der Übersetzer - Dein engster und genauester Leser - mag sich so lange frei fühlen, wie er diese Art vorlogischer Offenheit' Deiner Gedichte bewahren kann, - in seiner eigenen Sprache bewahren kann. Du selbst, John, hast, glaube ich, einmal gesagt, daß Deine Gedichte wie Stretchsocken seien. Ich muß Dir aber sagen, daß ich mich, wenn ich Dich übersetze, überhaupt nicht frei fühle. Je vertrauter ich über die Jahre - es sind jetzt schon 20 Jahre! - mit Deinen Gedichten geworden bin, umso mehr empfinde ich sie als äußerst präzise und hochmusikalische Sprachenvironments, die natürlich an dem allgemeinen kulturellen Milieu teilhaben, in denen aber auch die verschiedenen Personae in Dir mit klaren Stimmen aus zahlreichen Perspektiven sprechen. Nun kommt John noch einmal auf seine eigenen Übersetzungen zu sprechen. Was ihn noch reize, das wäre zu versuchen, Trakl ins Amerikanische zu bringen. Aber er könne ja kein Deutsch. Er bräuchte «sehr interlineare» Interlinearübersetzungen. Im übrigen glaube er, daß oft die erste, noch rohe, etwas ungelenke Übersetzung dem Original am nahesten komme und für das Verständnis eines fremdsprachigen Gedichts hilfreicher sein könne als die späteren, überarbeiteten, ziselierten Fassungen. Wir kommen auf Walter Benjamin und Rudolf Borchardt zu sprechen, dessen Übersetzung von Swinburnes A Forsaken Garden so wild, so fremdartig für das deutsche Ohr klingt. Sartorius: Borchardt behauptete, daß die Andersartigkeit des Originals in der Übersetzung erhalten bleiben muß, daß der deutsche Leser stets sich bewußt sein muß, daß er eine Übersetzung liest. Das bringt mich, John, zu einer allerletzten Frage: Meinst Du, daß es eine Art von erotischer Beziehung gibt zwischen dem Übersetzer und dem Gedicht, das er übersetzt? Ashbery: So weit würde ich nicht gehen. Ich denke nicht, daß ich eine erotische Person bin, ich denke nicht wirklich über Erotik nach. Vielleicht heißt das ja, daß ich es bin. Sartorius: Ich spreche über Dich nicht als erotische Person, aber wenn Du mit einem Gedicht von einem anderen zu tun hast, willst Du dann nicht in dieses Gedicht eintreten, es Dir aneignen? Ashbery: Du meinst also ein sinnliches, sexuelles Gefühl? Sartorius: Sexuell, das ist vielleicht zu viel. Eher in Richtung Le plaisir du texte. Ashbery: Das klingt gut, auf dem Papier oder wenn Du es sagst. Aber wenn es sich wirklich so verhält, dann bin ich mir dessen nicht bewußt. Eher würde ich sagen, daß das Schreiben von Gedichten selbst ein erotischer Zeitvertreib ist, weil es, in meinem Fall, mit Improvisation zu tun hat, die der Improvisation beim erotischen Akt sehr ähnlich ist, nie vorausgeplant. Sartorius: Ein Übersetzer muß, um ein Gedicht zu übersetzen, dieses Gedicht irgendwie mögen. Hast Du etwa nicht Pierres Gedichte geliebt? Ashbery: Ja, ich mag sie sehr. Aber ich denke nicht, daß ich sie auf eine erotische Weise liebe - oder alles andere, das ich je übersetzt habe. Ich habe soviele Sachen übersetzen müssen, während meiner Zeit in Frankreich, es war eine Art travail alimentaire... Sartorius: Bei travail alimentaire suchen wir sicherlich vergeblich nach Erotik. Aber Raymond Roussel zu übersetzen, das war doch kein travail alimentaire! Ashbery: Oh nein, überhaupt nicht. Ich habe es so sehr geliebt - oh, nun habe ich es doch gesagt - nun gut, es war eine Arbeit, die ich liebte. Eine Liebesmühe. Eine schwere Arbeit. Vielleicht war sie erotisch in jenem Sinne. (Joachim Sartorius und John Ashbery in ZdZ 7/8) |